Thomas Steininger

 

Wir befinden uns in einem besonderen Augenblick. Die Wirtschaftskrise in Europa bringt auch Deutschland in eine neue Situation. Ironischerweise ist Deutschland, ohne es anzustreben, zum einflussreichsten Land auf diesem Kontinent geworden. Zwei Mal hat im vergangenen Jahrhundert Deutschlands Machtstreben zur Katastrophe geführt. Jetzt ist ihm fast gegen den eigenen Willen eine führende Rolle in Europa zugefallen. Denn die meisten von uns wollen – aus verständlichen Gründen – in Europa keine politische Verantwortung übernehmen. Das Karma, das die deutsche Geschichte hinterlassen hat, steckt uns tief in den Knochen.

Nur, wir haben keine Wahl. Deutschland ist in Europa zur einflussreichsten Nation aufgestiegen und wir müssen lernen, mit dieser neuen Situation umzugehen. Heute droht uns eine europäische Katastrophe, wenn Deutschland nicht Verantwortung übernimmt.

Also was sollen wir tun? Vielleicht müssen wir zu allererst sehen, wie wichtig es ist, dass die europäische Einigung weiter gelingt. Es geht nicht nur um Krieg oder Frieden. Es geht auch um die Frage, wie wir die rasante Globalisierung bewältigen. Wird es uns gelingen, globale Strukturen der Zusammenarbeit zu entwickeln? Der europäische Einigungsprozess ist zu einem Modellfall für eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit geworden. Trotz aller Schwierigkeiten sehen Menschen aller Kontinente in diesem Beispiel eine Hoffnung für die Welt. Aber es wird keine europäische Integration mehr geben, wenn die Eurozone auseinanderfällt. Und die Eurozone braucht dringend unsere Solidarität. Vor allem der europäische Süden braucht die Unterstützung der Deutschen, Unterstützung durch Know-how, durch nachhaltige Politik aber auch in Form von Geld.

Und als wäre das nicht genug, braucht es auch noch unsere Demut. Für unsere Nachbarstaaten ist es ein unerträglicher Gedanke, wieder von Deutschland dominiert zu werden. Wie kann man Verantwortung übernehmen, ohne zu dominieren? Aber man kann Stärke auch dafür einsetzen, eine solidarische Politik zu entwickeln. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass auch das auf Misstrauen fällt. Wahrscheinlich werden wieder einmal alte Deutschland-Klischees bemüht. Haben wir die Demut und den Mut, trotzdem eine führende Rolle für Europa zu übernehmen?

Auch gegenüber unserem deutschen Karma sind wir in einer neuen Situation. Lange Zeit war die Haltung in Deutschland gegenüber den Schrecken des Zweiten Weltkrieges vor allem von Vermeidung, Schweigen und vielleicht von einer Art lähmender Schuld geprägt. Die 68er Generation war die erste Generation, die aus dieser Starre ausgebrochen ist und die Finger auf die Täter und auf ihre Eltern gerichtet haben. Heute, vielleicht auch weil die Tätergeneration stirbt, sehen wir neue Generationen heranwachsen, die Kinder und Enkel der 68er und mit ihnen eine neue Offenheit jenseits von Schuldkomplex und Vermeidung. Vielleicht kann man es „produktives Gewissen“ nennen. Wir sehen ein neues Grundgefühl, dass wir Deutsche einen Beitrag für diese Welt leisten müssen – als Deutsche. Viele junge Menschen sind nicht mehr von der Schuld erdrückt, dieser Kultur, dieser Nation anzugehören. Es gibt eine neue Versöhnung mit der Tatsache, deutsch zu sein.

Ja, die deutsche Kultur ist heute eine reife Verbindung einer modernen, rationalen Grundhaltung, die sich auch in Deutschlands starker wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zeigt, und einer postmodernen Sensibilität, die in der Lage ist, auch die eigenen dunklen Seiten und die dunklen Seiten eines blinden Kapitalismus wahrzunehmen. Diese reife Kultur erlaubt eine neue Sicht auf die politische und wirtschaftliche Realität. Sie erlaubt neue, intelligente, sensible und von einem tiefen Gewissen geprägte Antworten.

Um unsere Rolle in Europa auszufüllen, brauchen wir beides: eine Würdigung der historischen, kulturellen Leistungen, die Deutschland hervorgebracht hat, aber auch ein Bewusstsein von Deutschlands großem Versagen im 20. Jahrhundert. Wenn wir beide Seiten dieses Bildes gemeinsam in unserem Bewusstsein halten, entsteht daraus die Möglichkeit, eine positive Kraft für Europa und für die Welt zu sein.

Die deutsche Romantik ist in den Händen der Nazis zu einem mörderischen Gebräu geworden. Aber es war auch die Romantik, die als Erste die Unzulänglichkeit einer flachen, technologischen Rationalität erkannte. Wir können heute die Tiefe und Weite der deutschen, romantischen Idealisten mit einer erneuerten Rationalität verbinden. Das Resultat wäre vielleicht eine rationale Spiritualität, die uns erlaubt, mit Verantwortung, Sensibilität und einem tiefen, spirituellen Gewissen unsere Rolle in der internationalen Politik auszufüllen.

Und Sie, die Leser und Leserinnen dieser Zeitschrift, mit Ihrem Interesse an einer progressiven, weltzugewandten Spiritualität sind hier doppelt gefragt. Nicht nur die deutsche Politik ist aufgerufen, diese historische Chance zu ergreifen und ein Beispiel zu setzen. Wir sind es auch.

Die Krise in Europa braucht unsere Weitsicht und unseren Verstand, sie braucht aber auch unser Herz und unsere Seele. Wir brauchen eine neue rationale Spiritualität, um die verschiedenen Dimensionen dieser Herausforderung wahrzunehmen. Eine authentische Erfahrung, dass es keine Trennung gibt, befreit auch unseren politischen Blick von der Interessenpolitik, die sonst immer die Grundlage des politischen Handelns bleibt. Die Wörter „Menschheit“ und „Welt“ bekommen aus dieser Perspektive einen anderen Klang. Vielleicht kennen Sie aus Ihrer eigenen spirituellen Arbeit, was es bedeutet, sich dem eigenen persönlichen Karma zu stellen und welche Befreiung es bedeutet, sich den eigenen Fehlern, gerade den großen Fehlern zu stellen. Mit der Demut, die es braucht, sich selbst ehrlicher zu sehen, wächst auch eine Anerkennung dafür, dass es für eine Nation wie Deutschland noch herausfordernder ist, durch einen ähnlichen Prozess zu gehen.

Es braucht aber auch eine evolutionäre Perspektive, um diesen Augenblick in der europäischen Geschichte in einem Kontext langfristiger kultureller Entwicklungen als Teil eines großen globalen Prozesses namens Menschheit zu verstehen. Und es braucht einen integralen Blick, um wahrzunehmen, wie politische/ökonomische Systeme und Bewusstsein und Kultur sich gemeinsam entwickeln. All das erlaubt uns zu sehen, dass die Krise in Europa nicht nur eine ökonomische/politische Frage ist. Es geht hier auch um unsere seelische Entwicklung, unsere eigene Seele, aber auch um die Seele einer Nation wie Deutschland oder die Seele Europas.

Aus dieser Sicht wird die auf uns lastende wirtschaftliche Krise auf einmal auch eine echte Möglichkeit, nicht nur eine Chance, unseren europäischen Nachbarn zu helfen zu einer neuen finanziellen und sozialen Stabilität zu finden. Sondern auch eine Möglichkeit, Menschlichkeit, Herz und Verstand zu beweisen, und auf diese Weise einen Beitrag dafür zu leisten, einen der großen karmischen Knoten unserer Zeit zu lösen. Unser Handeln könnte zu einem Wendepunkt für den kulturellen Zynismus unserer postmodernen Zeit werden. Wir Deutsche sind uns dessen oft nicht bewusst, aber die Verbrechen des deutschen Faschismus spielten eine wesentliche Rolle dabei, dass die Menschheit im 20. Jahrhundert den Glauben an sich selbst verloren hat. Dieser kulturelle Pessimismus wurde zum prägenden Zeitgeist einer ganzen Epoche. In vielen Teilen der Welt werden die deutschen Verbrechen noch immer als eine der zentralen Erfahrungen des letzten Jahrhunderts gesehen. Wir haben heute eine Chance, diesen Erfahrungen eine andere, eine neue Erfahrung mit den Deutschen entgegenzusetzen.

Ein Deutschland, das den Mut hat, in dieser schwierigen Lage auf eine neue Art eine führende Rolle einzunehmen – auf eine Art, die geprägt ist von kultureller Weitsicht, vom Willen, sich nicht vor der Verantwortung zu drücken, aber auch der Demut, aus der eigenen Großmannssucht und der eigenen Unmenschlichkeit gelernt zu haben. Wir können für unsere Vergangenheit nur Verantwortung übernehmen, wenn wir für unsere Zukunft Verantwortung übernehmen. Die Krise in Europa hat uns wieder in eine Situation gestellt, in der unser Handeln, das Handeln Deutschlands, wirklich zählt. Wird unsere Politik die Größe haben, sich dieser Herausforderung zu stellen? Nutzt die deutsche Politik die Möglichkeit, seelische Reife und eine Politik der Menschlichkeit zu zeigen, die demonstriert, dass ein ganzes Land, eine ganze Kultur, aus seiner Geschichte lernen kann? Wir haben die Chance dazu.

Und wir, denen eine progressive, evolutionäre Spiritualität am Herzen liegt? Wir sehen vielleicht mehr als andere diese Chance – werden wir das Wort ergreifen, werden wir uns einmischen? Deutschland braucht uns. Und auch die Welt.

 

EnlightenNext Impulse 07

 

Radio evolve Gespräch mit Prof. Dr. Barbara von Meibom: Deutschland und Europa: www.bit.ly/2sTNlog

Radio evolve Gespräch: Europas Krise – Ein deutscher Schicksalsmoment: http://bit.ly/2rvLlzj

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