Wie wir uns mit der Welt verbinden

Lebendigkeit hat heute einen hohen Wert. Wir unternehmen viel, um unseren Körper zu erfahren, um unsere Beziehungen intensiver zu leben. Manchmal scheint es, als ginge es um viel mehr. Was wäre eine Kultur der Lebendigkeit?

Thomas Steininger

Die Menschheit als Ganzes ist ein lebendiges Kind dieser Erde. Gleichzeitig haben wir mit der Industriegesellschaft eine Lebensform geschaffen, die den Planeten und uns selbst in vielfacher Form bedroht. Wie kommt es, dass die soziale und ökonomische Wirklichkeit, die wir geschaffen haben, zu einer Bedrohung unseres Lebens wird – unserer Fähigkeit, uns mit der Lebendigkeit dieser Welt zu verbinden?
Lebendigkeit selbst ist ein eigentümliches Wort. Es ist uns so unmittelbar nah und offensichtlich. Wir brauchen nicht darüber nachzudenken. Man weiß, was gemeint ist. Zumindest scheint es so. Sobald wir unseren Blick direkt auf diese Lebendigkeit richten, sobald wir anfangen, über sie nachzudenken, scheint die Lebendigkeit uns irgendwie zu entweichen. Was bleibt, ist ein Gedanke, ein Bild. Etwas hat sich dazwischen geschoben – zwischen uns und die Lebendigkeit. Wie nehmen wir Lebendigkeit eigentlich wahr? Mit unseren Augen sehen wir das Licht und Formen, mit unserem Gehörsinn hören wir Töne, Dissonanzen und Resonanzen und mit unserem Geist nehmen wir Gedanken und Ideen wahr. Besitzen wir einen Sinn für Lebendigkeit? Es scheint so – und gleichzeitig scheinen wir ihr gegenüber oft taub zu sein.

Eiche und Bildschirm

Als ich so über Lebendigkeit nachdachte, suchte ich, wie ich es öfters tue, eine alte Bekannte hier in Frankfurt-Niederursel auf: eine große majestätische Eiche. Sie steht in einem Kirchgarten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. In den Arbeitspausen besuche ich oft diesen Garten – einfach, um einmal weg von Schreibtisch und Computer zu sein. Seit Langem schon schätze ich an diesem etwas versteckten Ort seine eigene Art von Lebendigkeit, in die man dort immer wieder eintauchen kann.
Der Kontrast dieses Ortes zur »Bildschirmrealität« an meinem Computer ist sehr stark. Das ist besonders spannend zu bemerken, wenn ich am Computer nicht gerade durch lange Emails, Texte oder Facebookeinträge gehe. Unsere Bildschirme sind ja heutzutage viel mehr. Sie sind voll von Landschaften, von Menschen, die einem dort begegnen, in Bild, Video und Ton. Der Kirchgarten und mein Computer sind zwei sehr unterschiedliche Welten. Der Garten mit seiner Eiche berührt mich in einer Weise, wie ich es in meinem Büro, in der technischen Realität der Computerarbeit nie erfahre. Ja, auch Bilder am Computer berühren mich, sprechen mich an, aber gleichzeitig, wenn ich darauf achte, merke ich, dass etwas fehlt, was ich bei meiner Eiche immer finde. Selbst ein Skype-Gespräch wirkt ganz anders als eine Unterhaltung im Kirchgarten.
Was macht diese natürliche Lebendigkeit aus? Da ist das Offensichtliche, der Wind, das offene Licht, auch die Energie des Gartens. Schon die Zellen meines Körpers reagieren auf diese Bäume anders als auf den Bildschirm im Büro. Es gibt genügend biologische und physikalische Erklärungen zum Phänomen der Lebendigkeit. Aber ähnlich wie beim Phänomen der Liebe verpasst man vielleicht das Wesentliche, wenn man Lebendigkeit einfach als eine Art von Energie versteht. Man macht dann aus der Lebendigkeit ein Etwas, ein Ding. Doch Lebendigkeit begegnet uns nicht als ein Etwas oder ein Ding.
Ich kenne die Eiche in unserer Straße ziemlich gut – mittlerweile zu jeder Jahreszeit. Im Frühjahr ist sie immer der letzte Baum, der seine Knospen öffnet. Dann explodiert sie innerhalb von zwei Wochen förmlich in das helle Grün der neuen Eichenblätter. Die gelblich-grünen, hängenden Blüten, die die Eiche zur selben Zeit produziert, sieht man eigentlich nur, wenn man sehr nahe an den Baum herangeht. Zwei, drei Wochen dauert es, bis die Krone der Eiche sich voll entfaltet hat, um dann über die Sommermonate fast unverändert zu stehen, bis sich an den Ästen langsam die Eicheln entwickeln. Im Herbst, wenn die ersten Eicheln vom Baum fallen und sich langsam die Blätter verfärben, entleert sich die Eiche wieder von ihrer Blätterkrone, bis dann im November der Wind die letzten Blätter vom Baum weht. An den Zweigen sieht man dann bereits die Knospen des nächsten Frühjahrs.

Flucht vor den Jahreszeiten

Als Menschen gehen wir immer unbewusster durch die Jahreszeiten. Wenn wir im Winter nach Bali fliegen oder nach einem Tag im Büro einige Kilometer im Fitnesscenter auf dem Laufband zubringen, verlieren die Jahreszeiten an Bedeutung. Trotzdem, oder vielleicht auch deswegen: seit der Industriegesellschaft begleitet uns diese Suche nach Lebendigkeit. Wir finden sie in der Romantik. Wir finden sie in der Jugendbewegung. Diese Suche wurde ebenfalls Teil der Industriegesellschaft. Sie wurde zu einer Triebfeder der Freizeitkultur. Wenn wir schon nicht nach Bali fliegen, so gehen wir doch zum Wandern in die Alpen. Wir laufen Marathon und suchen nach einer neuen sexuellen Sinnlichkeit. Auch in der neuen Esskultur zeigt sich diese Sehnsucht. Bio ist nicht nur Gesundheitstrend. Es ist unsere Abkehr von der »Plastiktomate«, von der Industrienahrung der letzten Jahrzehnte. Die vegane Küche wurde zur Leitkultur für junge Hipster. Die Paleo-Diät bezieht sich direkt auf die Ernährung unserer frühen Vorfahren, aus einer Zeit vor Ackerbau und Viehzucht. Diese »neue Religion des Essens«, wie es das »Zeit-Magazin« ausdrückt, ist ebenso eine Suche nach der verlorenen Lebendigkeit wie Fitness und Yoga.
Der Urlaub auf Bali, die Zeit in den Bergen, unsere Yogapraxis können eine tiefe Bereicherung sein. Sind sie auch der Anfang einer neuen Kultur der Lebendigkeit? Man muss nicht so weit gehen wie der Philosoph Theodor W. Adorno, der meinte: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Aber sehen wir, wie sehr wir auch Teil einer lebensfeindlichen Zeit sind? Jürgen Habermas spricht davon, dass sich mit der Geburt der modernen Gesellschaft die Systemwelt von Wirtschaft und Verwaltung von unserer Lebenswelt getrennt hat. Habermas ist kein Romantiker, der meint, dass traditionelle Gesellschaften keine Formen von Herrschaft und Entfremdung hatten. Er spricht davon, dass sich mit der Moderne ein abstraktes System von Wirtschaft und Verwaltung entfaltet hat, dessen innere Logik sich nicht mehr mit der Lebenswelt verbindet. Diese Systemlogik, in der zum Beispiel immer mehr menschliche Beziehungen zu reinen Warenbeziehungen werden – man denke an den »Leihopa« – kolonisiert unsere Lebenswelt. Dabei braucht unsere komplexe Gesellschaft funktionierende Systeme. Wir leben nicht mehr in kleinen Dorfgemeinschaften. Aber wie können wir sie mit dem Lebensimpuls der Welt verbinden?

Weg von der Natur

Die Eiche hier in Niederursel ist vielleicht hundert Jahre alt, aber die Eichen als Ganzes haben auch in unserer Kultur eine lange Geschichte. An der alten Außenmauer des Kirchgartens erinnert eine Tafel an den heiligen Bonifatius. Bonifatius war jener christliche Heilige, der im 7. Jahrhundert die Deutschen bekehrte. Durch unsere kleine Straße führt ein Pilgerweg, der an ihn erinnert – der Bonifatius-Weg, ein Wanderweg, der vom Mainzer Dom bis zum Grab des Bonifatius in Fulda führt. Und Bonifatius hatte auch eine besondere Beziehung zu Eichen. Er bekehrte im frühen Mittelalter die oberfränkischen Stämme, indem er die heilige Eiche der Germanen, die Dona-Eiche in der Nähe des heutigen Kassel, fällte. Das Fällen der heiligen Bäume der Kelten und Germanen war damals bei den christlichen Missionaren eine beliebte Methode, um gegen die alten Naturreligionen vorzugehen. Diese Abkehr von der Natur war natürlich auch eine Hinkehr zu einer neuen, geistigen Form der Spiritualität. Es war das Symbol eines großen kulturellen Übergangs. Es beendete einen jahrtausendealten Kult der lebendigen Natur, aber es war auch der Beginn einer neuen Klosterkultur, einer geistigen Kultur, die später etwa in den gotischen Kathedralen und einer neuen, geistlichen Musik ihren Ausdruck fand.
Fast tausend Jahre später gab es in Europa noch eine zweite Welle, die sich gegen die Reste der alten Naturreligionen richtete. Der Beginn der Neuzeit, als sich aus der Alchemie die ersten Formen der Naturwissenschaft bildeten und die Humanisten die menschliche Individualität und Rationalität wieder neu entdeckten, war auch die Zeit der großen Hexenverfolgungen. Die Hexen und Hexer waren die letzten Vertreter eines alten, magischen Naturkultes. Am Anfang der Moderne stand auch ein Gewaltexzess.
Trotzdem war die Aufklärung nicht nur die Geburt der Menschenrechte und der Demokratie. Sie ermöglichte unserem Denken auch, große und komplexe Zusammenhänge zu denken und zu verstehen. Es ist diese Komplexität, die unser Leben vom Leben eines Baumes unterscheidet. Ein Baum ist ein Baum, ist ein Baum, ist ein Baum. Darin steckt auch seine Kraft. Er hat von der Systemwelt nichts gehört. Wir Menschen haben eine Geschichte, eine Gesellschaft, ein System, das uns prägt. In uns steckt so viel Information und Reflexion.
Aber Lebendigkeit lässt sich nicht so einfach denken. Sie ist kein Etwas, sie ist kein Ding. Deswegen tut sich auch die Naturwissenschaft so schwer mit ihr. Wie können wir uns heute, als denkende, aufgeklärte Menschen wieder der Lebendigkeit nähern? Manche Philosophen wie der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme sehen einen Weg in der Entdeckung unseres Leibes – unseres Leibes, nicht unseres Körpers. Das scheint eine spitzfindige Unterscheidung zu sein, und doch hängt an ihr eine ganze Kosmologie. Der deutsche Zen-Lehrer und Leibtherapeut Graf Dürkheim nannte es den Unterschied »zwischen dem Körper, den ich habe, und dem Leib, der ich bin«. Leib ist immer ungetrennte lebendige Gegenwart. Unser Leib ist die Lebendigkeit, die wir selber sind. Doch wo hört diese Lebendigkeit auf?

Von Mensch zu Mensch

Die Eiche in meiner Straße verbreitet eine ganz eigene Atmosphäre. Der 30 Meter hohe Baum steht einfach da, die Krone in den Himmel gespreizt, die Wurzeln im Boden verankert.
Manchmal, wenn ich so neben ihr stehe, bin ich mir nicht so sicher, wo die Eiche anfängt und wo ich aufhöre. Die Eiche – aber auch die Kirche nebenan, das Dorf, der Garten, bilden ein lebendiges Ganzes und das ist mehr eine leibliche Erfahrung als eine gedankliche Einsicht. Auch die Atmosphäre in meinem Arbeitszimmer, an meinem Computer ist eine ganz eigene Erfahrung. Da ist das Licht des Raumes, die Nüchternheit des Computers. Da ist das ganze digitale Universum, das sich hinter meinem Bildschirm öffnet. Dieses Universum hat die Atmosphäre meines Arbeitsraumes drastisch verändert. Früher waren Arbeitsräume einmal geschlossene Räume. Man ging durch Türen hinein und durch Türen hinaus. Durch das Fenster sah man die unmittelbare Umgebung. Heute hat die ganze digitale Welt direkten Zutritt zu meinem Raum. Das ändert seine Atmosphäre auch leiblich, körperlich.
Wenn wir uns von Mensch zu Mensch begegnen, begegnen wir uns in einer lebendigen Gegenwart. Sind wir uns dieser Gegenwart bewusst? Diese gemeinsame Gegenwart kann selbst kulturelle und geschichtliche Dimensionen beinhalten. Sie ist gleichzeitig unendlich weit und völlig konkret. Manchmal gelingt uns lebendige Begegnung. Da sind Beziehungen keine Zweckbeziehungen, auch keine Warenbeziehung. Sie verhaken sich nicht in psychologischen Mustern. Da entsteht das gelebte Potenzial eines gemeinsamen Augenblicks.
Die Dialogarbeit und HigherWe-Arbeit, in die ich auch involviert bin, versucht diese Begegnung in einem gemeinsamen, lebendigen Bewusstseinsfeld zu kultivieren.
Jemand, der schon in den 60er Jahren mit dieser erweiterten Leiblichkeit unserer Begegnungsräume und unserer Gesellschaft gearbeitet hat, war der Künstler und Sozialaktivist Joseph Beuys. Er, der Bildhauer, nannte diese Arbeit die Soziale Plastik. In der leiblichen Erfahrung unserer sozialen Welt entdecken wir einen Organismus, dessen Teil wir auf eine bestimmte Weise schon immer waren. Der Herzschlag eines Stadtviertels, die Atmosphäre eines Sitzungsraums, der Lebensimpuls eines Freundschaftskreises – sie werden Teil einer erweiterten Leiblichkeit, in der wir uns nicht mehr nur als Objekte gegenüberstehen. Joseph Beuys hat seine Praxis der Sozialen Plastik bis tief in politische und gesellschaftliche Prozesse hineingetragen. In der Nachfolge von Beuys tragen Menschen wie Shelley Sacks und Wolfgang Zumdick, die auch in dieser Ausgabe von evolve zu Wort kommen, diese Arbeit weiter.

Heilung und Entfaltung

Lebendigkeit ist unmittelbar wie ein Baumblatt, das sich im leichten Wind bewegt. Lebendigkeit ist aber auch universell. Die kulturelle Evolution der Menschheit ist Teil dieser Lebendigkeit. Vielleicht mussten wir uns von der lebendigen Natur entfernen. Vielleicht musste Bonifatius die Eichen fällen, um den Weg für etwas Neues frei zu machen. Aber Lebendigkeit braucht immer wieder auch Heilung. Ich glaube, das hat auch Joseph Beuys so verstanden. Seine letzte große Arbeit vor seinem Tod entstand 1982 auf der Kunstausstellung documenta. Er nannte sie »Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung«. Er ließ in den Straßen von Kassel 7000 Eichen pflanzen. Sie stehen dort noch heute und haben langsam begonnen, das Stadtbild Kassels zu verwandeln.
Ich habe einmal recherchiert, wo genau Bonifatius eigentlich vor 700 Jahren die heilige Donar-Eiche gefällt hat – es war in Geismar, 25 Kilometer außerhalb der Stadt Kassel. Joseph Beuys, der sich auch als ein moderner Schamane und Heiler verstand, hat das sicher gewusst. Die Entdeckung der Lebendigkeit ist auch die Entdeckung eines großen Lebensprozesses – sei es die Menschheit, sei es die Erde, sei es der Kosmos –, der immer wieder Heilung und Entfaltung braucht.