Vom Kampf der Kulturen zum Dialog der Kulturen

Thomas Steininger

Intro
Aufklärung und das Heilige werden oft als Widerspruch gesehen, so als würden sie einander ausschließen. Aber ist das wirklich so? Und was können uns ein türkischer Imam, der den Westen verurteilt, und junge Nonnen, die in Russland ein verfallenes Kloster wieder aufbauen, über die Notwendigkeit lehren, Aufklärung und Seele wieder zusammenzubringen?

Die Terroranschläge von Brüssel erschüttern und verunsichern Europa. Es ist die Angst und die andauernde Ungewissheit, die uns verändern. Nach dem Brüsseler Anschlag hafteten sich meine Gedanken tagelang an die tragischen Ereignisse. Der Hass der Fanatiker schlägt auch in unseren Seelen eine klaffende Wunde. Was passiert mit Europa? Was geschieht gerade in der Welt? Alle spüren die Verunsicherung, die sich in den letzten Jahren ausgebreitet hat. Es ist mittlerweile eine lange Liste geworden: Al Kaida und IS-Terror, die Banken- und Eurokrise, Griechenland, die Flüchtlingströmen aus den benachbarten Bürgerkriegen. Fast vergisst man schon, den im Hintergrund drohenden Klimawandel mit aufzuzählen.
Dabei war bis vor kurzem das Wort Europa für viele Menschen noch eine große Inspiration. Europa machte Sorgen, aber genauso war da eine große Hoffnung, selbst Stolz. Als der Eiserne Vorhang fiel, schien auf dem alten Kontinent sehr viel möglich. Unsere östlichen Nachbarländer blühten auf, wenn auch mit Schwierigkeiten mit der neuen errungenen Demokratie – mit neuer Farbe, neuem Leben und in vielen dieser neuen Demokratien auch mit einer neuen Zuversicht. 2004 schrieb der amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin noch ein Buch mit dem Titel «Der europäische Traum». Er beschrieb darin, dass das europäische Einigungsprojekt dabei war, einen neuen Schritt in der Weltgeschichte vorzubereiten. Die Europäische Union, so schien ihm, könnte den Nationalstaat überwinden und zu neuen demokratischen, zwischenstaatlichen Beziehungen finden – eine Einheit in der Vielfalt, ein Vorbild für die Welt des 21. Jahrhunderts.

In der Welt als Ganzes kam etwas in Rutschen

Vielleicht ist es uns nur nicht aufgefallen, dass damals bereits etwas verloren ging. Unser Denken war so von den Jahrzehnten des Ost-West-Konflikts und vom friedlichen Sieg der westlichen Demokratien geprägt, dass wir nicht bemerkten, wie in der Welt als Ganzes etwas in Rutschen kam. Der amerikanische Philosoph Francis Fukuyama sprach damals sogar vom Ende der politischen Geschichte. Das europäisch/amerikanische Modell der liberalen Demokratie und des liberalen Kapitalismus hätten sich endgültig durchgesetzt. Wenige sahen die Zeitenwende. Der Politologe Samuel P. Huntington wurde vorerst von vielen nicht ernst genommen, als er eine neue Form von Zukunft skizzierte, die er als einen «Kampf der Kulturen» wahrnahm. Viele traditionelle Kulturen hatten damit begonnen, sich vom europäischen Fortschrittsmodell, das lange in seiner zerstrittenen kapitalistisch/sozialistischen Doppelform existiert hatte, abzusetzen. Europa und sein Erbe Amerika waren seit über 300 Jahren so etwas wie das Zukunftsversprechen der Welt gewesen. Diese Zukunft wurde für viele fraglich.
Mir begegnete dieser skeptische Geist zum ersten mal in der Türkei. In den 90er Jahren war ich in meiner spirituellen Suche auf die Mystik der Sufis gestoßen. Einer der beeindruckendsten Sufis war der im 12. Jahrhundert lebende persisch/türkische Dichter Rumi. In einem Sommer beschloss ich, Rumis Grab in der türkischen Stadt Konya zu besuchen. Konya, einige Autostunden südlich von Ankara gelegen, ist – auch wegen Rumi –, so etwas wie die heilige Stadt der Türkei. Ich fand eine überraschend orientalische Stadt, gefüllt mit Basaren und Moscheen. Die Derwische, die ich auf den Spuren Rumis suchte, fand ich in diesem Sommer in Konya nicht. Aber ich begegnete jungen, frommen Türken, für die ich damals keinen Namen hatte. Heute würde ich sie Islamisten nennen. Ein junger Imam, der mich auch einmal während der öffentlichen Gebetszeiten auf das Minarett seiner Moschee mitnahm und mich unbedingt zum Islam bekehren wollte, machte mir in einem Gespräch auf dem Teppich seiner Moschee klar, wie sehr er die Seelen- und Gottlosigkeit Europas, wie er den Kapitalismus und die westliche Konsumkultur verachtete. Europa war die Sünde. Als Ermunterung, mich zum Islam zu bekehren, schenkte er mir selbst aufgenommene Musikkassetten des amerikanischen Folksängers Cat Stevens, der damals gerade zum Islam konvertiert war und jetzt als Yusuf Islam fromme moslemische Lieder sang. «Seit dem Ende des Sozialismus haben die Armen der Welt keine Stimme mehr außer den Islam», meinte mein neuer Freund, «die Zukunft gehört nicht der materialistischen Konsumgesellschaft, sondern dem Islam.» Damals lächelte ich innerlich. Seitdem habe ich oft an ihn gedacht. Was wohl aus ihm geworden ist?
Europas Verunsicherung ist eine innere und eine äußere. Die Krisen der letzten Jahre lassen uns an uns selbst zweifeln. Unser europäisches Modell hat in der Welt stark an Leuchtkraft verloren und man spürt eine tiefe Verunsicherung der europäischen Werte. Europa – das steht in der Welt für Demokratie. Doch das Brüsseler Modell der Europäischen Union wird mehr und mehr als eine postdemokratische Entwicklung empfunden. Die Brüssler Institutionen scheinen die nationalen demokratischen Prozesse auszuhebeln, ohne sie durch vollwertige demokratische Prozesse auf europäischer Ebene zu ersetzen. Der europäische Gedanke selbst, die Vision von gemeinsamen übernationalen, demokratischen Institutionen wird von starken rechtspopulistischen Bewegungen infrage gestellt. Und die dauerhafte Wirtschaftskrise wirft viele Fragen nach der Form unseres Wirtschaftens auf. Welche Priorität geben wir der sozialen Beteiligung aller Menschen an unserer Gesellschaft? Was bedeutet heute Freiheit? Die europäische Kolonialgeschichte kommt heute in der Form vieler kritischer Fragen der ehemaligen Kolonien nach Europa zurück. Und – wie antworten wir auf die neue, globale Mobilität der Armut? Wir leben wieder in sehr politischen Zeiten. Aber unsere Krise hat auch noch eine andere, vielleicht tiefere Dimension. Und die hat mit Seele zu tun.
Für viele traditionelle Kulturen steht die westliche Kultur für einen Verlust an Seele. Antidemokratische und antiliberale politische Projekte, von Putins Russland, Viktor Orbáns Ungarn bis zu Erdoğans Türkei, sehen sich als Verteidiger der Menschen gegen eine seelenlose, materialistische Kultur. Bei jemand wie Putin mag das nur ein zynisches Machtkalkül sein. In Putins Russland, dass sich ja wieder als die christliche Alternative zum «dekadenten Europa» versteht, ist es viel mehr.

Die Sehnsucht nach Seele

In den 80er Jahren lebte ich einige Zeit in Moskau. Das war die Zeit des nachsowjetischen
Verfalls unter Präsident Jelzin, eine Zeit, in der es in Moskau kaum etwas zu kaufen gab und in der man Stunden in der Moskauer U-Bahn zurücklegen musste, um eines der wenigen Cafés der Stadt zu besuchen. Damals begeisterten sich die Moskauer noch für alles, was aus dem Westen kam. Es war «die neue Freiheit“. Aber es gab damals bereits ein Phänomen, das mir auch ein anderes Russland zeigte. Neben den vielen jungen Russen der alten Nomenklatur, die damals ihre Zukunft darin sahen, «Businessman» zu werden, gab es auch eine richtige Welle unter jungen intellektuellen Moskauern, in die alten, verfallenen Klöster rund um die Stadt zu ziehen, um diese alten heiligen Orte wieder als Mönche und Nonnen aufzubauen. Ich besuchte eines dieser neu-alten Klöster, das 30 Kilometer westlich von Moskau lag. Im 2. Weltkrieg hatte das Gebäude als Befestigung gegen die vorrückenden deutschen Panzer gedient. Seitdem war es Lagerhalle gewesen. Nun lebten hier 15 junge Nonnen in halbfertigen Räumen. Nur die Kirche hatten sie damals schon renoviert. Bei einem einfachen Mittagessen erzählten mir die jungen Nonnen, dass Moskau der eigentliche Nachfolger Jerusalems sei und dass Russland schon seit langem die eigentliche Heimat der christlichen Kultur sei. Manchmal, wenn ich heute die nationalistischen Ideologen rund um Putin höre, sehe ich diese idealistischen jungen Frauen vor mir, Aussteigerinnen aus dem weltlichem Leben, die dem nachsowjetischen Russland wieder eine Seele geben wollten.
Was hat es mit dieser Frage nach der Seele auf sich? Mit dem Verlust traditioneller Gottesvorstellungen, so ist oft die Kritik der Traditionalisten, hätten wir die wichtigsten Dimensionen unseres Menschseins verloren. Das Wort Seele steht in vielen Kulturen für eine Beziehung zu einer als heilig empfundenen Dimension, zu etwas Wunderbaren, das sich nicht in Erklärungen auflösen lässt. Diese authentische Beziehung zu dem Wunderbaren, wurde in traditionellen Gesellschaften ganz unterschiedlich gesehen und gelebt, aber es war eine lebendige Dimension unserer menschlichen Lebens.

Gibt es eine aufgeklärte Beziehung zum Wunderbaren?

Die Kraft Europas war immer die Kraft der Aufklärung. Der europäische Traum ist ein Traum der Selbstbestimmung, der Demokratie und Menschenrechte, des Pluralismus und der Meinungsfreiheit – allesamt Werte, die sich Europa mühsam über Jahrhunderte erkämpft hat.
All diese Werte sind bei den Traditionalisten unter Verdacht geraten, Mitschuld an den Schattenseiten Europas zu haben, an der materialistischen Konsumkultur, an einer Wirtschaftkultur, in der das Leben selbst unter die Räder die kommt.
Vielleicht ist es deswegen so wichtig, danach zu fragen, ob es eine aufgeklärte Beziehung zum Wunderbaren, zum Heiligen gibt. Die Welt braucht Menschen, die dem europäischen Traum eine Seele geben können, die auch von traditionellen Gesellschaften als eine neue, eben eine aufgeklärte Seelenkultur gesehen und geschätzt werden kann. Dann haben wir eine Chance, die Fanatiker zu isolieren.
Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas sprach als einer der ersten von einer entstehenden postsäkularen Gesellschaft. Die Religionen haben, so Habermas, für die «gesellschaftlichen Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge» eine Form gefunden, ein Verständnis zu zeigen, dass die Vernunft und die Expertenwissenschaften nicht leisten können. Postsäkular bedeutet, dass die europäische Aufklärung beginnt, sich von den religiösen Überlieferungen und der religiösen Dimension inspirieren zu lassen.
Es gibt Orte in Europa, wo dieser neue Dialog lebt. Es gibt sie in der Wissenschaft und in der Politik. Im christlichen Umfeld gibt es Menschen wie die Benediktinermönche Willigis Jäger oder Bruder David Steindl-Rast, die eine Brücke zwischen den religiösen Traditionen und einer europäisch säkularen Kultur schlagen. An Orten wie der Akademie Heiligenfeld entsteht eine neue Dialogkultur zwischen Wissenschaft und Spiritualität. Es gibt spirituelle Lehrer wie Thomas Hübl und Annette Kaiser oder den Philosophen Ken Wilber, bei denen dieser neue Dialog lebt.
Die Welt braucht ein Europa mit Seele, weil die Welt den Dialog zwischen Aufklärung und Seele braucht. Die neue Zukunft muss kein Kampf der Kulturen werden. Sie kann auch zum Dialog der Kulturen werden.