Eine Kultur der Offenheit

Thomas Steininger

Intro:
Liebe ist die Grundkraft unseres Lebens, aber wir leben in einem Bewusstsein und einer Welt, wo diese Kraft oft nicht mehr zu sich selbst findet und uns verloren zurücklässt. Wie können wir in unserer krisenhaften Welt wieder zur Liebe finden?

Vor Kurzem besuchte ich zwei Freunde in Berlin, er ein Künstler, sie eine Sozialarbeiterin. Bei unserem abendlichen Gespräch, wir hatten uns länger nicht gesehen, erzählten sie mir von ihren Erlebnissen im letzten Jahr. Während der großen Flüchtlingswelle im Sommer 2015 hatten beide damit begonnen, sich in der Flüchtlingsarbeit in Berlin zu engagieren. Sie ahnten damals noch nicht, wie diese Arbeit ihr eigenes Leben verändern sollte. Was für sie als rein soziales Engagement begann, wurde zu einem neuen Lebensmittelpunkt: Frauencafés, Kulturtreffs, deutsche Nachbarn, die sie vorher gar nicht kannten, die aber jetzt Teil einer gemeinsamen Stadtteil-Initiative sind. Von zwei jungen Syrern – sie studieren heute Maschinenbau in Berlin –, die sie als Übersetzer kennengelernt hatten, erzählen meine Freunde so, als wären die beiden für sie so etwas wie Söhne geworden.
Nein, meine Freunde erzählten mir keine romantischen Flüchtlingsgeschichten. Die Schwierigkeiten, von denen sie sprachen, erscheinen fast unüberwindlich. Von beiden höre ich sehr viel Zweifel, ob es wirklich möglich ist, die kulturellen Differenzen zwischen »alten und neuen Deutschen« zu überwinden. Aber da war dieser Ausdruck in den Gesichtern meiner Freunde. Die neu in Deutschland Angekommenen, denen sie in ihrer Arbeit begegnet sind, haben sie tief ergriffen. Was geschieht hier in Berlin und anderen Städten Deutschlands? Mitten im Gespräch zeigte sich mir ein Bild, das ich so noch nie gesehen hatte: Diese flüchtenden Menschen haben in Syrien, im Irak oder in Afghanistan ihr ganzes soziales Umfeld verloren. Sie sind aus allen sozialen Zusammenhängen herausgefallen und oft vereinzelt hier in einer fremden Welt gelandet. Und was geschieht – neben all der Angst, der Gewalt und den riesigen Schwierigkeiten, von denen wir laufend hören? Die menschliche Sehnsucht danach, miteinander zu sein, ist eine ungeheure Kraft. Menschen finden zu Menschen. Fremde lernen sich schätzen und lieben. Auch das ist heute deutsche Wirklichkeit.
Die Liebe und das Leben gehören auf eine ganz eigentümliche Weise zusammen, die sich auch in unserer Sprache zeigt. Die nahe Verwandtschaft des Wortes »Liebe« mit dem Wort »Leben« ist kein Zufall. Liebe verbindet uns nicht nur. Sie gibt unserem Leben Sinn. Unser Leben ist etwas sehr Persönliches. Doch das Leben scheint seine Wurzeln in Liebe und Verbundenheit zu haben. Wie kann in diesem Augenblick der Geschichte, in dem so viele Kräfte uns auseinanderreißen und Verunsicherung und Angst immer mehr zum Alltag gehören, Liebe unsere Kultur mit neuem Leben füllen?

Von der Liebe

Überall, wo sich Menschen begegnen, wird Liebe möglich. Von der Kinderliebe, der Elternliebe, unserer ersten großen Liebe oder auch der Liebe zwischen Freunden – diese mysteriöse Kraft begleitet uns von Anfang an. Wir teilen diese Erfahrung anscheinend auch mit unseren nahen Verwandten aus der Tierwelt, vor allem den Primaten. Es ist diese Kraft, diese emotionale Bindung zueinander, die sie von vielen anderen Tieren unterscheidet. In der langen Geschichte der Evolution entstand mit dieser emotionalen Bindung zueinander unter den Primaten eine neue Zeit. Aber auch andere Tiere kennen diese Bindung: Wer einmal gesehen hat, wie Elefanten über den Tod ihrer Lebensgefährten trauern, weiß, dass dieses Gefühl der Verbundenheit nicht nur uns Menschen vorbehalten ist.
Die Liebe begleitet uns von Anfang an, deswegen verwundert es, wie spät wir in unserer Geschichte anfingen, von ihr zu sprechen und über sie zu schreiben. Die Mythen indigener Kulturen betonen Qualitäten wie Ehrfurcht und Würde. Ihre Liebesgötter sind eher Götter der Fruchtbarkeit als Liebesgötter im modernen Sinn. Erst in späteren Religionen wie dem Christentum oder dem Mahayana-Buddhismus findet die Liebe die Bedeutung, die wir heute mit ihr verbinden. Auch die Liebesliteratur kennen wir eigentlich erst aus der Zeit indischer Mogule oder der chinesischen Ming-Dynastie, dem europäischen mittelalterlichen Minnegesang und vor allem seit dem Aufkommen der romantischen Literatur in der frühen Moderne. Es scheint, dass Liebe so etwas wie Individualität und Innerlichkeit braucht, damit wir sie auf die Weise verstehen und sehen, wie sie von unseren großen Dichtern besungen wurde. Es scheint, dass wir erst seelisch als einzelner Mensch bei uns selbst ankommen mussten, um zu entdecken, dass wir uns auch wieder loslassen können – dass wir uns selbst überschreiten können, um die Liebe wirklich zu entdecken.
Ähnliches erfahren wir auch in unserer persönlichen Geschichte. In der Pubertät bekommt die Liebe einen neuen Klang. Erst nachdem wir uns, meist nicht ohne Schwierigkeiten, von Vater und Mutter innerlich getrennt haben, entdecken wir die »erste große Liebe« – und das ist nicht nur die erste sexuelle Liebe, sondern das sind meist auch unsere ersten »echten Freunde«. In dem Alter, in dem wir uns selbst entdecken, in dem die alten Familienbindungen in den Hintergrund treten, wird der Blick frei für die große Liebe und für die »Freunde fürs Leben«.
In der Liebe entdecken wir den anderen. Der große christliche Mystiker Bruder David Steindl-Rast spricht davon, dass die Liebe einem Gefühl der Zugehörigkeit entspringt. Wir fühlen uns der Mutter zugehörig. Wir fühlen uns der Familie zugehörig. Wir fühlen uns unseren Freunden zugehörig. Wenn wir uns selbst gefunden haben, entstehen neue Zugehörigkeiten. Das ist gemeint, wenn die Entwicklungstheorien des menschlichen Bewusstseins von einem weltzentrischen oder gar einem kosmoszentrischen Bewusstsein sprechen. Auch unsere Liebe entwickelt sich in diesen Bahnen. Wir entdecken immer wieder, dass wir zu etwas viel Größerem gehören.

Und was ihr entgegensteht

Unsere moderne Kultur ist nicht immer eine Kultur der Liebe. Unsere moderne Gesellschaft lebt von einer Kultur der Berechenbarkeit. Die hochkomplexen Systeme, die unsere soziale Welt zusammenhalten, brauchen diese Berechenbarkeit. Und die »Big-Data«-Revolution, die wir gerade erleben, in der die Rechenzentren der Internetkonzerne uns bald besser kennen als wir selbst, zeigt, dass Berechnung noch in einem viel größeren Maße Teil unserer Wirklichkeit werden wird. Aber das eigentliche Leben, die echten Beziehungen, unsere wirkliche Menschlichkeit gehen verloren, wenn alles in Berechenbarkeit mündet. Wo Liebe berechenbar wird, stirbt sie.

Der Schatten dieser Abgrenzung ist unsere beziehungslose Single-Welt

Auch unsere Individualität stemmt sich oft gegen die Liebe, dabei ist sie eine so große Errungenschaft. Wir sind nicht mehr nur Teil unserer Familie, unserer Tradition und unseres Klans. Wir sind Ich geworden. Doch dieses Ich braucht Abgrenzung. Erst durch Abgrenzung werde ich zum Ich. Der Schatten dieser Abgrenzung ist unsere beziehungslose Single-Welt. In ihr lösen wir uns aus allen traditionellen Zusammenhängen. Jeder wird zu seinem eigenen Universum, ganz für sich. Doch Liebe lebt in der Verbundenheit. Wie können wir als moderne Individuen die tiefe Verbundenheit des Lebens neu entdecken?
Auch unsere objektive, wissenschaftliche Sicht auf die Welt macht uns zu schaffen. Dabei ist auch sie eine so wesentliche Errungenschaft unserer modernen Zeit. In der griechischen Mythologie gab es den sagenhaften König Midas. Alles, was er berührte, verwandelte sich in Gold. Sein Fluch war es, dass auch jede Speise und jeder Trank in seiner Hand zu Gold erstarrte. Kann es sein, dass uns unter unserem wissenschaftlichen Blick jedes Leben, jede Beziehung zu einer »objektiven Tatsache« erstarrt, zu einer Dinghaftigkeit, in der wir keine Liebe mehr finden? Wie können wir eine wissenschaftliche Sichtweise einnehmen, ohne in ihr gefangen zu sein?
Wir sind gegenüber dem Leben selbst heutzutage oft sehr empfindungslos geworden. Unsere Gesellschaft pflegt eine gewisse Dumpfheit der Wahrnehmung. Vielleicht ist es auch ein vergessener Schmerz, der uns zu dieser Dumpfheit führt, denn wir haben uns von vielem abgeschnitten, von unseren traditionellen Bindungen zueinander und auch von unserer Verbundenheit mit der Natur. Eine philippinische Freundin von mir, die sich sowohl auf den Philippinen als auch in Europa in »Peace Camps« für Dialog- und Friedensarbeit engagiert, spricht oft darüber, dass ihre europäischen Freunde nicht in der Lage sind, angesichts der Leiden anderer Menschen zu weinen. Es gibt einen Schmerz, den wir nicht mehr wahrnehmen. Wir haben in der Psychotherapie der letzten Jahrzehnte nur gelernt, unseren eigenen Schmerz wieder besser zu spüren. Aber vielleicht liegen die Wunden tiefer. Es sind gesellschaftliche und kulturelle Wunden. Erst in der Überwindung jener Empfindungslosigkeit finden wir die wirkliche Kraft der Liebe.

In Zeiten von Trump

Wer hätte gedacht, dass wir heute in so verunsichernden Zeiten leben würden. Die Wähler des neuen US-Präsidenten und die Pegida-Bewegten in Deutschland sind ein Ausdruck der Angst. Es gibt genügend Gründe dafür. Die Finanzkrise, in der wir seit 2008 leben, zeigt, auf welch tönernen Füßen unsere gesamte Wirtschaft steht. Der Arabische Frühling, für kurze Zeit ein Signal der Hoffnung, verwandelte sich in einen regionalen Flächenbrand und eine bisher unvorstellbare Flüchtlingskrise. Und wir leben inmitten einer Klimakatastrophe, an die manche immer noch nicht ganz glauben wollen. Unsere Zeit ist eine Zeit der Verunsicherung und Erschütterung, und wie jede wirkliche Erschütterung erschüttert sie auch unsere Fähigkeit, ihr mit Offenheit und Liebe zu begegnen.
Krisen, gesellschaftliche genauso wie persönliche, sind oft Zeiten der Erstarrung und des Rückzugs, in denen wir uns gerne auf alte »Sicherheiten«, und »Gewissheiten« verlassen. Wir wissen alle, dass sich etwas radikal ändern muss, doch wir wissen nicht wie. Das herkömmliche wirtschaftliche Denken scheint mit seinem Latein am Ende zu sein. Die amerikanischen Angstwähler sind sich auch irgendwie bewusst, dass wir wahrscheinlich am Ende des amerikanischen Jahrhunderts stehen. Aber wir stehen auch am Ende von 500 Jahren westlicher Kolonialherrschaft und Dominanz. Die Klimakatastrophe stellt unsere gesamte bisherige Industriekultur infrage.
In unserer Reaktion auf die Krisen zeigt sich auch unsere Beziehung zur Liebe. Auch wenn wir ein starkes Interesse an Bewusstseinsentwicklung haben, können wir unter dem Druck der Krisen leicht die Verbindung zur Liebe verlieren. In den sozialen Netzwerken erleben wir gerade eine dramatische Verhärtung und Verrohung der Sprache. Auch Freunde, mit denen ich eigentlich tief verbunden bin, verändern ihre Sprache. Sätze werden schneidend, Worte explosiv. Es gibt einen Rückzug auf die eigenen Gewissheiten und eine Dämonisierung des Anderen. Und es gibt noch eine Form von Reaktion, die sich auf die Liebe beruft, aber eigentlich eine Form der Vermeidung ist, denn es reicht nicht, sich gegenseitig an der Hand zu halten und all den großen Fragen, die sich uns stellen, aus dem Weg zu gehen.
Wir kennen es auch aus unseren persönlichen Konflikten – wenn die Widersprüche und Verunsicherungen kaum mehr zu ertragen sind, dann gibt es unter uns die Brandbeschleuniger, die ihr Heil in der Eskalation des Konflikts suchen und manchmal auch finden. Einige von uns bauen große Erklärungswelten, in denen wir die Beziehung zueinander völlig verlieren. Und es gibt jene von uns, die bereit sind, jeden Konflikt zu vermeiden, um zumindest einen Anschein von Liebe und Harmonie zu erhalten.
In der Krise erkennen wir die Kraft unserer Liebe.

Reife Liebe

Die Zeit, in der wir leben, braucht eine tiefere Erfahrung und ein größeres Verständnis der Liebe. Zu oft meinen wir damit nicht viel mehr als unsere »wahre Liebe«, unsere Romanze, unseren Seelenpartner oder die Sorge um unsere Familie. Können wir erkennen, wie sehr wir alle miteinander verbunden sind, ohne die Unterschiede und Konflikte zu verleugnen? Auch das wäre Liebe.
Vielleicht können wir auch etwas Wesentliches über die Liebe von den Mystikern lernen. Denn Mystiker sprechen oft nicht nur über die Liebe zu diesem und jenem, sie sprechen über die Liebe selbst. Das klingt seltsam, denn was ist Liebe, außer der Liebe, die sich auf etwas richtet? Vielleicht ist es die Liebe zur Liebe selbst, eine Liebe, die sich als die grundlegende Kraft des Lebens entfaltet, die alles einschließt, aber von nichts abhängt – auch nicht davon, den Herausforderungen einer existenziellen Krise gewachsen zu sein. Diese Freiheit gibt der Liebe eine ganz andere Kraft.
Liebe ist auch mehr als ein Gefühl. Sie ist gelebtes Interesse. Zu oft sehen wir unseren Drang nach Wissen und unseren wachen Verstand als etwas, das im Widerstreit mit unserer Fähigkeit zur Liebe steht. Es gehört zu unseren menschlichen Qualitäten, dass unser Interesse und unsere Aufmerksamkeit Kräfte sind, die immer neue Welten schaffen. Können wir mit offenen, liebenden Augen dieser Welt mit allen ihren Herausforderungen begegnen? Es ist dieser offene Blick, in dem sich neue Antworten finden. Auch müssen wir einander begegnen, wenn wir gemeinsam Antworten finden wollen. Ich muss »dich« erkennen, in deiner Eigenart, in deiner Andersheit, um lieben zu können. Das ist Martin Bubers große Einsicht, dass wahre Liebe in der Ich-Du-Beziehung liegt.
Unsere Fähigkeit zu lieben, löst nicht die Herausforderungen dieser Welt. Sie hat auch nicht die Antworten auf unsere Krisen. Aber sie erlaubt eine Kultur der Offenheit, in der wir die Antworten finden werden.

PQ:

Die menschliche Sehnsucht danach, miteinander zu sein, ist eine ungeheure Kraft.

Wo Liebe berechenbar wird, stirbt sie.

Der Schatten dieser Abgrenzung ist unsere beziehungslose Single-Welt.