15Aufwachsen in die Mitte des Lebens

Bildung lebt im Herzen, in unserem tiefsten Bezug zur Welt. Können wir uns der Welt in all ihren Zumutungen öffnen und an ihr wachsen? Sind wir bereit, immer wieder zu sterben, um Leben zu lernen?

Thomas Steininger

Es gibt in der Literatur die Gattung des Bildungsromans, Johann Wolfgang von Goethes »Willhelm Meisters Lehrjahre«, Hermann Hesses »Demian«, J. D. Salingers »Der Fänger im Roggen«. Bücher wie diese lassen uns daran teilhaben, wie Menschen im Ringen mit der Welt reifen, wie sie ihre Herzen öffnen. Eigentlich ist jede Lebensgeschichte ein Bildungsroman. Unsere Lebensgeschichte erzählt, wie wir der kindlichen Geborgenheit entwachsen und zu einem Menschen werden, der seinen eigenen Beitrag für unsere gemeinsame menschliche Geschichte findet.
Wir beginnen diesen Roman in der Geschütztheit unseres Elternhauses. Langsam, über die Jahre, öffnet sich die Welt für uns, oder besser gesagt, wir öffnen uns für die Welt. Manchmal bricht diese Welt dramatisch über uns herein, sodass wir fast in ihr versinken. Manchmal öffnet sie in uns Dimensionen, von denen wir keine Ahnung hatten, dass sie in uns schon angelegt waren. Manchmal überwältigen uns unsere neuen Erfahrungen in einer Weise, dass wir uns ein Leben lang von diesen Wunden nicht mehr erholen. Und immer wieder finden wir Antworten, Antworten auf unser Leben. Bildung hat viele Seiten. Das Herz der Bildung ist vielleicht die Herzensbildung selbst. Es ist dieses wachsende Herz, das uns durch das Leben trägt. Das sich öffnet, um die Welt zu erfassen, sich bisweilen verschließt, wenn die Welt es bedrängt. Und das dabei immer für dieses Leben schlägt. Jeder liebt Kinderherzen, ihre Unschuld, ihre Offenheit. Kinderherzen leben in einer Kinderwelt. Es sind der Zauber und die Beschütztheit dieser kleinen Welt, der Kinder Kinder sein lässt, ganz am Anfang.

Gespräch mit dem Jesuskind

In meiner Heimatstadt Linz gibt es einen kleinen ausrangierten Bahnhof. Für mich ist dieser Bahnhof ein eigentümliches Fenster in die wunderbare Wirklichkeit meiner Kindheit. Dabei erinnert er mich nur an ein Selbstgespräch, das ich dort als vielleicht 7-Jähriger mit mir geführt hatte. In diesem Gespräch ging es um das Jesuskind. Der kleine Junge wunderte sich: Warum ist es für Erwachsene so schwer, sich mit dem Jesuskind zu unterhalten? Mehr ist diese Erinnerung nicht, nur dieser eine Satz. Aber jedes Mal, wenn diese Erinnerung in mir auftaucht, erscheint mit ihr der Zauber einer wunderbaren inneren Welt. Eine katholische Kindheit lebt mit einer Bilderwelt, die ihre ganz eigene Realität entfaltet. Ich erinnere mich an mein vielleicht erstes Streitgespräch, das ich mit einem Atheisten hatte. Was mir von diesem Gespräch blieb, waren weder Glaubenssätze noch Argumente. Der Eindruck, den es hinterließ, war eine große Verwunderung. Wie war es möglich, dass jemand die halbe Welt nicht sah? Da stand mir ein Mensch gegenüber, für den gab es nur diese äußere Welt. Alles andere war Illusion. Für mich war das, als würde jemand sagen, der Raum, in dem ich lebe, existiert gar nicht. Die Weite und Tiefe, die ich, noch in aller Kindlichkeit, erahnte, sei nicht wirklich.

Ein Anderer werden

Bildungsromane beginnen oft damit, dass ein junger Mensch das Zuhause, in dem er lebt, verlassen muss. Er muss hinaus in die Welt und die Welt beginnt ihn zu verändern. Oft bedeutet diese Begegnung auch einen Verlust von Unschuld, aber auch den Beginn einer neuen Reife. Die Welt verlangt, dass wir uns in ihr bewähren. Wenn wir im öffentlichen Diskurs über Bildung sprechen, steht oft die Wissens- und Kompetenzvermittlung im Mittelpunkt. Beides sind wichtige Dimensionen von Bildung. Wir müssen von der Welt wissen, wenn wir ihr begegnen wollen, und wir brauchen Kompetenzen, um mit ihr umgehen zu können. Aber darunter liegt eine weitere Schicht von Bildung. Wir müssen lernen, ein anderer zu werden. Jean Piaget, der Vater der Entwicklungspsychologie, hat als erster beschrieben, wie die Entwicklung unsere geistigen Fähigkeiten – von der ersten Sprache zur konkreten und dann formalen Logik – uns in immer neue Welten führt, komplexere Welten, vielschichtigere Welten. In jeder dieser Welten sind wir ein völlig anderer. Wie können wir dieser andere werden, ohne uns selbst zu verlieren? Wir betreten diese neuen Welten nicht einfach. Wir werden jeweils zu einer neuen Welt. Das macht Wachstum so schwer. Um in das Neue einzutreten, müssen wir den, der wir waren, hinter uns lassen. Das hindert uns auch so oft, über diese Schwelle zu gehen. Und die Gefahr, uns zu verlieren, ist eine wirkliche Gefahr.
Herzensbildung ist viel mehr, als man auf den ersten Blick sieht. Mein Herz ist kein physisches Organ. Mein Herz ist ein pulsierendes Ja zur Wirklichkeit, eine pulsierende Kraft der Liebe. Es ist auch die Fähigkeit, mich, gerade wenn ich alles loslassen muss, immer wieder in der Offenheit neu zu finden. Eigentlich ist ein offenes Herz ein natürlicher Zustand. Wir kommen damit auf die Welt. Und doch fragt uns das Leben immer wieder danach, es offen zu halten, es noch weiter zu öffnen. Was passiert, wenn wir unser Herz verschließen? Wir verschließen uns vor der Wirklichkeit, die sich vor uns und in uns auftut. Haben wir das Herz, zu wachsen? Haben wir das Herz, eine zu klein gewordene Welt hinter uns zu lassen? Die Zauberwelt unserer Kindheit wird irgendwann zu klein.

Gewissheit gerät ins Wanken

Bücher spielten in meinem Leben eine große Rolle. Immer wieder stießen sie mich in Welten, die meine innere Ordnung ins Wanken brachten. Ein kleines Buch, das ich in der Wohnung einer befreundeten Familie zufällig las, stieß so ein Fenster auf, das sich nicht mehr schließen lies. Das Buch war die »Traumdeutung« von Sigmund Freud. Mein Blick auf meine eigenen Träume verband sich mit diesen neuen Gedanken. Eine größere Welt begann, in mich einzusickern, nahm mich in Besitz.
Es gab noch so ein Buch, das ich als Teenager las und das mich nicht mehr verlassen sollte, Hans Joachim Störigs »Kleine Weltgeschichte der Philosophie«. Da waren die ganzen Namen, von denen ich noch nie gehört hatte: Platon, Kant, Nietzsche, Wittgenstein, Camus. Und ich versuchte, soweit ich konnte, ihren Gedanken zu folgen. Aber das zutiefst verstörende Erlebnis war – sie überzeugten mich, eigentlich alle, einer nach dem anderen, obwohl sie alle einander widersprachen. Wie konnte ein Denker mein Herz erobern, der das Gegenteil von dem behauptete, was ein anderer gesagt hatte, den ich genauso überzeugend fand? Mein Herz war weit und dabei doch so aufgewühlt. Wie kann es so viele durchdachte Sichtweisen auf unsere Welt geben?
Mein Blick auf die Welt der Gegenwart ließ mich diesen inneren Widerstreit auch im Außen erkennen. Gerechtigkeit und Demokratie, diese Themen öffneten mir die Augen für so viele Probleme der Welt. Vielleicht war es auch umgekehrt, vielleicht fanden meine Teenager-Probleme hier einen neuen Platz. In einer ungerechten Welt machte mein eigenes Leiden plötzlich Sinn. Es half mir auch in meiner eher schwierigen Beziehung zu meinem Vater, der jetzt für mich zum Vertreter einer unbarmherzigen und veralteten Weltordnung wurde. Und ich weiß noch, wie ich in einer Kirche in Linz stand, es war gerade eine Messe. Geradezu in einem einzigen Augenblick kam so etwas wie eine große Gewissheit über mich – ich kann das Ganze nicht mehr glauben. Mein Herz war erschüttert, etwas zerbrach. Von diesem Zeitpunkt an verstand ich mich als Atheist.
Bildung ist eine gute Voraussetzung für große Krisen. Und ohne Krisen gibt es wahrscheinlich keine wirkliche Bildung. Wenn sich eine neue Welt öffnet, ist das kein gemächlicher Vorgang, kein sanftes Sich-Auftun. Die Welt, wie wir sie erleben, ist immer ein Ganzes. Die wunderbare Welt des Kindes ist ein Ganzes. Und dann kommt der Moment, in dem das Alte rissig wird, in dem etwas Neues hervorbricht. Das, was jetzt entstehen möchte, macht im Lichte des Alten keinen Sinn. Wir können dann das Neue nicht einfach lernen und dem, was wir wissen und sind, zur Seite stellen. Manchmal muss unsere Welt erst zusammenbrechen. Haben wir das Herz, den Aufbruch zu wagen, wenn dieser Aufbruch Krise bedeutet? Unsere Pubertät ist oft solch eine Krise. Nur, unser Leben hört hier nicht auf. Haben wir die Kraft, dem Leben immer wieder neu zu begegnen?

Größe des Herzens

Meine Zeit an der Universität war, wie bei vielen, von einem großen Idealismus geprägt. Für einen jungen Erwachsenen haben Themen wie Gerechtigkeit, Demokratie und Ökologie eine große Kraft. Dabei sah ich nicht, wie diese großen Themen auf einen selbst zurückwirken. Ein Idealist zu sein, ist auch ein Schutzwall. Mein jugendlicher Hochmut fand in meinem Idealismus seinen besten Verbündeten. Was immer auch geschah, wie schwer das Leben auch war, auf der »richtigen Seite« zu stehen, gab mir das Gefühl, nahezu unantastbar zu sein.
Aber ich war nicht glücklich. Das war auch der Grund, warum ich eine Psychotherapie begann. Nur, ich war nicht darauf vorbereitet, wie mich diese Therapie verändern sollte. Nach einem Selbsterfahrungswochenende ging ich durch Wien und es traf es mich, wie oberflächlich hülsenhaft unser Leben ist. Eine Erfahrung, die mich besonders überraschte, war, dass ich auf einmal eine tiefe Sehnsucht nach und Resonanz mit einer Dimension erfuhr, die ich auch damals nur als göttlich bezeichnen konnte. Diese neue Dimension sollte mir in den nächsten Jahren immer wichtiger werden. Letztlich führte sie mich sogar für fast 20 Jahre in eine spirituelle Gemeinschaft. Der Schritt war auch ein Schritt, mit meiner Arroganz und meiner Besserwisserei umzugehen. Bevor ich für einige Jahre nach Kalifornien ging, verkaufte ich alle meine Bücher auf dem Wiener Flohmarkt und beschloss, mit dem Schreiben aufzuhören.
Herzensbildung ist auch die Auseinandersetzung mit sich selber. Mich meiner eigenen Arroganz und meiner Besserwisserei zu stellen, zu sehen, wie ich mich gegenüber der Welt und den Menschen um mich verhärte, einfach weil ich jemand sein möchte. Bildung ist ein doppelter Prozess, der sich auf eine immer größer und komplexer werdende Welt einlässt, und gleichzeitig in alldem die eigene Mitte immer wieder neu zu finden versucht. Je größer die Welt, umso tiefer muss ich gehen, um in ihr diese Mitte zu finden. In der kleinen Welt unserer Kindheit, so sie glückt, erfahren wir, was ein offenes Herz sein kann. In der kindlichen Geborgenheit kann etwas reifen, das dann immer mehr die Kraft bekommt, sich der Größe der Welt auszusetzen. Vielleicht bedeutet aufzuwachsen, dass wir lernen, uns der Unendlichkeit und Vieldimensionalität unserer Welt zu stellen. Aber wo finden wir hier unsere Mitte? Woher nehmen wir die Größe des Herzens, uns all dem zu öffnen? Unsere falschen Sicherheiten wie auch unsere letztlich falschen Ängste finden ihre Lösung in einer Mitte, die überall ist. Erst dann weichen wir der Welt nicht mehr aus.
In einer spirituellen Gemeinschaft zu leben, muss kein Ausweichen vor der Welt sein. Im Gegenteil, in der bewusst gewählten Öffnung in Verbundenheit kann eine Wirklichkeit in die Wahrnehmung kommen, der wir uns sonst leicht verschließen. In der gemeinsamen Praxis erwacht ein großes Herz, in der Mitte des Grenzenlosen. Vielleicht ist genau das die Aufgabe einer spirituellen Gemeinschaft, diese Dimension zum Zentrum unserer menschlichen Beziehung zu machen.

Die Stille in der Mitte von allem

Eine tiefe Erfahrung, die diese andere Dimension der Wirklichkeit für mich so offensichtlich werden ließ, machte ich ausgerechnet in der U-Bahn in New York. Ich kam von einem mehrmonatigen Meditationsretreat und war auf dem Weg zum Flughafen. Die New Yorker U-Bahn ist ein Ort wie kaum ein anderer, an dem Menschen aus aller Welt, aller Hautfarben, aller Sprachen zusammentreffen, dicht gedrängt, laut, hektisch, pulsierend. Ich saß mitten unter ihnen in dem überfüllten U-Bahn-Waggon, mein Fluggepäck neben mir, durchdrungen von der Frische mehrerer Monate der Meditation und schaute in die Gesichter, die mich umgaben. Es war so klar sichtbar, wie jeder mit seiner ganz besonderen Geschichte, seiner ganz persönlichen Identität verhaftet war. Von außen betrachtet fast ein Organismus, doch darin letztlich jeder abgeschottet für sich. Wenn man gerade einige Monate damit verbracht hat, all diese Einzelheiten ein wenig loszulassen, kommt etwas in die Sichtbarkeit. Es wird wahrnehmbar, wie all diese Geschichten und Identitäten ein transparentes Gewebe bilden, wie sie Ausdruck eines großen pulsierenden Ganzen und einer dahinterliegenden Stille sind, die in der Aufgeregtheit des Alltags leicht übertönt wird. Und eigentümlicherweise ist es genau diese Stille, die sich immer wieder als die Mitte von allem erweist. In ihr klingt ein Herzschlag, der umso kraftvoller ist, je tiefer er in die Welt mit all ihren Herausforderungen und in das mit ihnen ringende Selbst hineinsinkt.
Aber auch eine spirituelle Gemeinschaft kann zu einer Verengung werden. Es ist leicht, Verantwortung einfach abzugeben an einen spirituellen Lehrer, an eine Gemeinschaft und sich in ein Behütetsein durch etwas Größeres zurückzuziehen. Die Krise, in der man das erkennt, erinnert einen daran, dass wir wachsen, wenn wir uns unserer Verantwortlichkeit in der Welt stellen und ihr immer wieder schutzlos und mutig entgegentreten. Wieder braucht es das ganze Herz, den nächsten Schritt im Leben zu finden.
Wenn unser aller Leben ein Bildungsroman ist, dann ist unser Herz vielleicht der Held dieser Geschichte. Weitet es sich, wird unmittelbare Begegnung und Beziehung möglich und ein tiefer Dialog mit anderen und der Welt. Das geschützte Herz unserer Kindheit muss einem erwachsenen Herzen weichen, einem Herzen, das die Welt kennt, einem Herzen, das seine Mitte kennt, immer wieder ein offenes Herz.

PQ:

Eigentlich ist jede Lebensgeschichte ein Bildungsroman.

Mein Herz ist ein pulsierendes Ja zur Wirklichkeit.

Die Welt, wie wir sie erleben, ist immer ein Ganzes.