von Dr. Thomas Steininger

 

Im Juni dieses Jahres hielt ich im städtischen Kulturzentrum Rote Fabrik in Zürich einen Vortrag über die Evolution des Bewusstseins, den wir hier in einer gekürzten Fassung wiedergeben. Doch wir möchten Sie als Leser auch warnen: Dieser Vortrag ist dicht, sehr dicht, und das mit Absicht. Denn wenn wir uns die Explosion unseres Bewusstseins in den letzten 100.000 Jahren in nur wenigen Zeilen vor Augen führen, entsteht vielleicht unter der Fülle des Gesagten ein neuer Blick – der Blick auf die Tiefenzeit. Dieser Blick kann herausfordernd sein, aber er lohnt sich. Er öffnet eine neue Sicht auf die Frage, was es heißt, Mensch zu sein.

 

Veranstaltungen wie diese sind immer auch eine Form der Begegnung: Sie hören meinen Vortrag, wir kommen miteinander ins Gesprächlesen Worte, die ich geschrieben habe. Wir begegnen uns. Aber als wer oder was begegnen wir uns?

Wir sehen uns heute ganz selbstverständlich als Individuen mit einer je einzigartigen Identität. Doch dass wir uns als individuelles Ich wahrnehmen können, ist eine enorme historische und kulturelle Leistung. Das war nicht immer so. Sind wir uns dessen bewusst? Ich möchte in diesen Vortrag unsere Identität und unser Selbstverständnis in einen großen historischen Kontext setzen, in den Kontext unserer Menschheitsgeschichte.

 

Die Anfänge des Menschseins

Bitplex 360

Gehen wir zurück zum Anfang, zum Anfang des Menschen: Irgendwann gab es diesen Übergang, diesen Sprung von dem Bewusstsein hoher Primaten zu einem menschlichen Bewusstsein. Tiger, Schimpansen und Rehe haben Bewusstsein, aber – und das ist wirklich ein radikaler Unterschied – sie sind sich dessen nicht bewusst. Irgendwann in unserer Frühgeschichte gingen wir durch diese radikale Veränderung: Wir wurden uns bewusst, dass wir bewusst sind. Wir sehen diesen Übergang auch in der frühkindlichen Entwicklung, wenn das Kind zum ersten Mal in der Lage ist, in der ersten Person zu sprechen: Es kann „Ich“ sagen.

Doch in unserer Menschheitsgeschichte sind wir zuerst nicht zu diesem „Ich“ aufgewacht. Als wir unserer selbst bewusst wurden, war das zuerst ein Bewusstsein für unser „Wir“ – unseren Klan, unsere Sippe, jene Blutsverwandtschaft, in der wir als Menschen einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Und wir brauchten dieses Wir, um uns miteinander zu ernähren, zu verteidigen und fortzupflanzen. Am Anfang war der Klan.

Der deutsche Bewusstseinsforscher Jean Gebser (1905 – 1973) bezeichnete diese Entwicklung als den Übergang von einem archaischen zu einem magischen Bewusstsein, und das ist vielleicht die erste Form bewusster, menschlicher Kultur. In diesem magischen Blick auf die Welt waren Subjekt und Objekt, innen und außen, noch nicht klar getrennt. Unsere Innenwahrnehmung und die Wahrnehmung der Natur waren noch eins. Die ganze Welt war magisch durchdrungen. Unser Bezugspunkt war der Klan und sein Überleben in einer Natur, die gleichzeitig ein Innen und Außen war: Bäume, Flüsse, Tiere, Geister und Dämonen waren eine ungeteilte innere und äußere Realität.

Wir fingen damals auch an, diese Realität, in der wir lebten, zu bezeichnen. Was am Anfang nur Laute waren, wurde mit der Zeit zu Worten. Langsam begann sich unser Bewusstsein als Sprache zu kristallisieren und unsere Sprache formte das Bewusstsein. Und wer Sprache hat, beginnt Geschichten zu erzählen. Wahrscheinlich waren es am Anfang Geschichten aus dieser magischen Welt: Geschichten von Flussgeistern, Berggeistern, Dämonen, Blut, Rache, Überleben, Sterben und unseren Ahnen.

Das Erzählen dieser Geschichten entfaltete sein eigenes Leben. Neben einer körperlichen Wirklichkeit lebten wir immer mehr auch in einer sprachlichen Wirklichkeit. Unsere Geschichten schufen neue Welten. Zu den Erzählungen über Tiergötter, den Klan und die Ahnen kamen neue Erzählungen über Götter, die mehr uns Menschen glichen. Sie hatten Namen wie Gaia, Odin, Saraswati oder Zeus. Es entstanden die großen Mythen der Welt.

Wir erzählten von neuen Göttern – Muttergottheiten, Göttern der Liebe, der Weisheit und Göttern des Krieges. Und wie das mit Geschichten so ist – sie veränderten auch unser Wir-Gefühl. Das Wir des Klans war vor allem das Wir des gleichen Blutes. Jetzt wurde es mehr und mehr das Wir unserer gemeinsamen Geschichten und Mythen. Jean Gebser nennt das den Übergang vom magischen zum mythischen Bewusstsein.

 

Die Achsenzeit

In der Entfaltung dieser neuen Welt der Erzählungen und Mythen gab es zwei Brüche, auf die ich gerne näher eingehen möchte. Der eine Bruch betrifft die Sprache selbst. Denn an einem Punkt unserer Sprachentwicklung kamen wir dazu, die Sprache selbst neu zu sehen. Denn Sprache erzählt nicht nur Geschichten, sie hat auch ihre eigene Form, ihre eigene Logik. Wenn wir anfangen die Logik der Sprache zu verstehen und bewusst logische Fragen stellen, dann sind wir im Übergang von den Mythen zur Philosophie. Dieser Sprung ist nirgendwo so eindeutig geschehen, wie im griechischen Kulturkreis des sechsten Jahrhunderts vor Christus. Damals entstand ein radikal neuer Bezug zur Sprache. Logische Fragen, wie „Warum ist etwas und nicht nichts?“, und der Versuch logische Antworten zu finden, führte Denker wie Thales von Milet oder Pythagoras in ein neues Land – das Land der Rationalität.

Ungefähr zur gleichen Zeit gab es noch einen anderen radikalen Bruch, und der betraf die Mythen selbst: Die großen Geschichten veränderten sich und das fast auf einen Schlag.

In voneinander meist unabhängigen Kulturkreisen – in China, in Indien, in Persien und am Mittelmeer – treten auf einmal Menschen auf, die von einer Dimension sprechen, die wir Menschen vorher so noch nie gesehen hatten. Im Gegensatz zur alten Götterwelt – der Götterwelt der indischen Mythologie, des frühen chinesischen Volksglaubens oder des Mittelmeerraums – sprechen diese Menschen von etwas, das sie als das Absolute bezeichnen. In China nennt es Laotse das „Tao“, das Unbenennbare, in Indien sprechen die Upanischaden vom „Brahman“, dem absoluten Bewusstsein. Buddha Gautama spricht vom „Nirwana“, der absoluten Leere.

In Israel beginnen Propheten wie Ilias den jüdischen Gott neu zu sehen, nicht als einen Stammesgott, sondern als den einen universellen und nicht benennbaren Gott. In diesen Kulturkreisen öffnet sich der Blick für eine neue Dimension. Was damals von diesen großen Religionsgründern gesehen wurde, führte auch zu neuen Formen der spirituellen Praxis, wie Meditation oder mystische Versenkung. Die mystische Praxis näherte sich auf ganz neuen Weisen dieser nicht benennbaren Dimension, von der man vielleicht aus heutiger Sicht sagen könnte, dass sich darin das Bewusstsein selbst erkennt.

Der deutsche Philosoph Karl Jaspers nannte diese Zeit, einen Zeitraum ungefähr 800 – 200 v. Chr. die „Achsenzeit“. Es war die Geburtszeit der großen Hochreligionen. Der Vorstoß dieser großen Pioniere wie Laotse, Buddha oder Ilias in eine absolute Dimension hat unsere Menschheitsgeschichte für immer verändert.

Im Mittelmeerraum verband sich dieser Aufbruch in einer ganz eigenen Weise mit der Geburt der Philosophie. Der Logos des Philosophen Heraklet hatte manche Ähnlichkeiten mit dem, was wir von Laotses Tao kennen. Aber die griechische Philosophie ging einen anderen Weg. Schon bei Aristoteles war das Absolute etwas, dem wir auch als Menschen denkend gegenüberstehen, das wir denkend erkennen. Im Mittelmeerraum entwickelten wir mehr als in anderen Teilen der Welt eine Beziehung zum Absoluten, zu Gott, als eine Beziehung zum Du. Denkend und handelnd standen wir diesem Du gegenüber und es war diese Du-Beziehung, welche die jüdische, christliche und islamische Kultur über Jahrhunderte prägte.

Doch was braucht es, um eine Beziehung zu einem Du zu haben? Es braucht ein Ich. Kein anderer Kulturkreis entwickelte in seiner Beziehung zu Gott ein so starkes Verständnis des eigenen Ich. Die Entwicklung unserer Individualität, unsere Individuation, wurde zu einem der Pfeiler der europäischen Kultur.

 

Das Aufblühen des Ich

Erlauben Sie mir einen Sprung, einen Sprung über mehrere Hundert Jahre. Denn diese Ich-Werdung, diese Individuation, fand in der europäischen Renaissance zu ihrer vollen Blüte.

Am besten sieht man das in der Kunst der italienischen Renaissance. Wir haben das wahrscheinlich alle in der Schule gelernt: In der Malerei der italienischen Renaissance kam es zu einem Durchbruch, der seitdem die moderne Kunst bestimmt. Genies wie Leonardo da Vinci oder Rafael begannen, auf eine neue Weise zu malen. Ihre Kunst war ein Durchbruch zur Perspektive. Was ist damit gemeint?

Wenn wir die mittelalterliche Malerei des 12. Jahrhunderts betrachten, zum Beispiel die Madonnen des Giotto, dann sehen wir in diesen Bildern atemberaubende, meisterhafte Kunst. Aber mit Leonardo und Rafael wird in der Kunst alles anders. Jean Gebser weist hier auf die überraschende Tatsache hin, dass das Neue in der Kunst hier eigentlich nicht im Bild selbst zu finden ist. Das Neue ist außerhalb des Bildes: Es ist der Maler oder der Betrachter selbst. Die eigentliche Entdeckung der perspektivischen Malerei ist das Subjekt des Malers, das Subjekt des Betrachters, der das Bild sieht. Es ist dieser Mensch vor dem Bild, sein Blick und seine Perspektive, die als Bezugspunkt im Bild eines Leonardo oder Rafael festgehalten werden. Die perspektivische Malerei ist eine Darstellung des Subjektes – jenes Ich, dass das Bild sieht. Was für eine Bewusstseinsleistung! Rafael und Leonardo halten den Blick des Betrachters im Bild selbst fest. Welche radikale Wahrnehmung der Subjektivität des Betrachters braucht es, um sie in einem Gemälde zu verewigen!

Seit dieser Entdeckung der Subjektivität, seit der Renaissance, begegnen wir uns anders. Unsere Bewusstseinsgeschichte generierte einen Knotenpunkt der Subjektivität und Individualität, den es vorher so nicht gab. Dieser Durchbruch war der Beginn der Moderne.

Doch Jean Gebser spricht von einem weiteren Sprung in unserer Bewusstseinsgeschichte. Auch dieser Sprung zeigt sich in der Kunst. Denn Anfang des 20. Jahrhunderts begannen einige Künstler um Pablo Picasso und Georges Braque wieder auf eine neue Weise zu malen und wieder hat es mit der Perspektive zu tun. Picassos Frauenporträts zeigen die Frauen nicht nur aus einer Sicht, aus einer Perspektive. Mehrere Blickwinkel, mehrere Sichtweisen treffen sich im gleichen Bild zur gleichen Zeit, überlagern und durchdringen sich. Picassos Kubismus ist gemalte Multiperspektivität.

Nichts könnte die Kulturleistung unserer postmodernen Gegenwart mehr auf den Punkt bringen als unsere Fähigkeit, die Welt gleichzeitig aus mehreren Perspektiven zu sehen. Dieser Zuwachs an Bewusstsein ist gewaltig. Wir nehmen die Dinge nicht mehr nur aus unserer eigenen Perspektive, sondern gleichzeitig der Perspektive anderer Menschen wahr. Die Fähigkeit, mehrere Perspektiven zu sehen, ist ein großer kultureller Gewinn, auch wenn sie, wie jede Kulturleistung, Schattenseiten wie den Relativismus hervorbringt.

 

Ein großer Entfaltungsstrom

Aber lassen sie mich noch einmal den Weg Revue passieren, den ich in diesem Vortrag versucht habe in wenigen, kurzen Skizzen zu zeigen. Es ist der Weg unserer Bewusstseinsentwicklung, der Weg unserer Menschwerdung. Und wenn wir diesen ganzen Weg sehen, von seinen Anfängen vor über 100.000 Jahren über die Entstehung der Sprache, der Mythen, der Achsenzeit, den Anfängen des rationalen Denkens und unserer Individualität, der Perspektive bis zu unserer multiperspektivischen Gegenwart, dann sehen wir einen großen Entfaltungsstrom, die Entwicklungsgeschichte unseres Bewusstseins.

Wir beginnen, unsere Entwicklung, unsere Evolution, zu sehen. Eine Sichtweise, die vielleicht als Erstes die Philosophen des deutschen Idealismus, vor allem Hegel und Schelling, systematisch beschrieben haben. Charles Darwin bereitete dieser Sichtweise in der Biologie den Weg. Und seit der Entdeckung des Urknalls um 1920 sehen wir in die Tiefe einer kosmische Evolution. Wir sehen 13,7 Milliarden Jahre kosmischer Entwicklung, angefangen vom Urknall über die Galaxien, die Sonnensysteme bis zur Entwicklung unseres Planeten, der Pflanzen und Tiere und unserer menschlichen Kultur.

Und wir? Wir leben in dieser gewaltigen Zeitdimension exakt an jenem Punkt, an dem dieser ganze Prozess anfängt, sich selbst zu sehen. Dieser ganze Entfaltungsprozess, dem ich in diesem Vortrag nachgegangen bin, ist ja unser Entfaltungsprozess. Indem wir anfangen, darüber nachzudenken und darüber zu sprechen wird sich dieser Prozess – durch uns – bewusst. Wir sind dieser Prozess.

Und hier schließt sich der Kreis zu meiner Anfangsfrage: „Wer oder was begegnet sich hier?“ Diese tiefe Erkenntnis, dass ich, dass wir, eigentlich dieser Prozess sind, das meint Andrew Cohen, wenn er von evolutionärer Erleuchtung spricht.

In der Achsenzeit, vor mehr als 2000 Jahren, erkannten Pioniere wie Laotse und Gautama Buddha die absolute Natur des Bewusstseins. Das hat unsere Kultur damals auf eine ganz neue Ebene gehoben. Heute sehen wir, dass Bewusstsein noch eine zweite Seite hat – Bewusstsein ist auch dieser große Werdensprozess.

Vielleicht leben wir in einer zweiten Achsenzeit: Die erste Achsenzeit war ein Durchbruch in die mystische Erkenntnis des absoluten Bewusstseins, wie sie die großen Meister beschrieben haben. Die zweite Achsenzeit könnte der Durchbruch zu einer neuen tiefen Erkenntnis sein, dass sich der kosmische Entwicklungsprozess seiner selbst bewusst wird – durch uns.

 

EnlightenNext Impulse 02

 

Audio zum Thema:

Thomas Steininger im Dialog mit Katrin Karneth:

„Die Evolution der Erleuchtung“
http://bit.ly/2tQM3IT

„Bewusste Evolution“
http://bit.ly/2tQQIug