Thomas Steininger & Sonja Student über die Perspektiven einer neuen Spiritualität

 

THOMAS STEININGER: Wir haben in der letzten Zeit viel über das Authentische Selbst und das Einzigartige Selbst gesprochen. In dieser Diskussion geht es darum, wie wir heute im 21. Jahrhundert Spiritualität neu verstehen können. Entsteht durch die neue Spiritualität auch ein neues Selbstbild, ein neues spirituelles Selbstverständnis?

SONJA STUDENT: Ja, zunächst sehen wir, dass in einer neuen Spiritualität die evolutionäre Perspektive eine ganz wichtige Rolle spielt. Es geht in der Spiritualität von heute nicht mehr nur darum, die Zeitlosigkeit oder den Urgrund des Seins zu erkennen. Wir müssen uns auch mit anderen Dimensionen innerlich befassen. Das alles übersteigt den klassischen Begriff der Erleuchtung. Wir können uns darin nicht mehr ausschließlich auf die mystischen Traditionen oder die großen Weltreligionen berufen. Die integrale Theorie spricht deshalb davon, dass es nicht nur um das Aufwachen geht; es geht gleichzeitig um einen Prozess des Aufwachsens. Wir müssen auch darauf achten, erwachsene und entwickelte Persönlichkeiten zu werden.

TS: Ja, wir brauchen beides. Der Mystik geht es um das Aufwachen, um Erleuchtung. Viele integral oder evolutionär interessierte Menschen vergessen, wie wichtig diese Dimension des Absoluten, wie wichtig Transzendenz ist. Diese Dimension steht aber bei allen traditionellen, mystischen Wegen im Mittelpunkt. Im Osten sprach man manchmal von der Seins-Erfahrung, im Buddhismus von der Leere, die christlichen Mystiker nannten es die direkte Erfahrung Gottes.

Nun ging der Westen mit der Moderne und der Aufklärung einen anderen Weg. In der Aufklärung geht es darum, dass wir eigenständige und selbstverantwortliche Individuen werden. Aufgeklärt sein heißt, erwachsen zu werden, oder, wie du es ausdrückst, aufzuwachsen. Die europäische Aufklärung ermöglichte es uns, unseren kindlichen Zugang zur Welt hinter uns zu lassen. Und heute kommt noch eine Erkenntnis hinzu. Wir beginnen langsam zu verstehen, dass wir Teil und Ausdruck eines sich entwickelnden Kosmos sind. Das aufgeklärte Individuum und dieser große Entwicklungskontext, diese beide Aspekte waren den spirituellen Traditionen so nicht bewusst.

SS: Und in unseren westlichen Ländern ist die Erleuchtungsdimension zum großen Teil verloren gegangen. Wir haben uns damit eine wichtige Quelle unseres Seins, auch unseres Menschseins, abgeschnitten. Wir müssen diese Dimension zunächst zurückholen, denn im Grunde ist das unser tiefstes Selbst. Aber dann stellt sich für uns die Frage: Wie können wir diese absolute Dimension in der heutigen Zeit ausdrücken?

TS: Ja, wie können wir diese Dimension als eigenständiges Individuum zum Ausdruck bringen? Das meint ja die Idee eines Einzigartigen Selbst, wie es Marc Gafni und Ken Wilber eingebracht haben. Und wie können wir auch ein bewusster Ausdruck dieses großen Entwicklungskontextes werden, den wir gerade anfangen zu erkennen. Das meint Andrew Cohen, wenn er vom Authentischen Selbst spricht: Sehen wir unsere Individualität in Beziehung zu diesem großen Werden des Universums, oder sehen wir sie getrennt davon? Andrew Cohen spricht sogar von einer absoluten Dimension des Werdens. Der Kosmos ist ein großes Werden und in uns Menschen des 21. Jahrhunderts beginnt dieser Prozess selbstbewusst zu werden.

SS: Andrew Cohen betont sehr diese absolute Dimension des Werdens-Prozesses. Es ist wichtig zu erkennen, dass nicht nur dem Seinsgrund, sondern auch dem Werden Absolutheit innewohnt. Ich sehe das Einzigartige Selbst hier mehr mit einem holonischen Ansatz: Wir sind das Ganze aber auch ein Teil, wir sind beides. Wir sind einzelne Menschen, und wir sind gleichzeitig der ganze Prozess. Mit diesem Paradox müssen wir uns auseinandersetzen.

TS: Der Begriff des Einzigartigen Selbst meint natürlich nicht nur das relative Selbst. Er sieht im Individuellen auch eine erleuchtete Dimension.

SS: Ja, so wie ich es sehe, ist die Individualität im Kosmos „eingebaut“. Das meint Ken Wilber, wenn er sagt, der Kosmos besteht aus Perspektiven. Es gibt die Perspektive des Individuellen und Kollektiven, des Außen und Innen, und diese Perspektiven sind von Anfang an da.

Individualität ist Bestandteil unseres Kosmos und deswegen ist auch das Individuum nicht reduzierbar. Das Individuum ist nicht nur ein „Anhängsel“ des kosmischen Prozesses. Der Mensch hat in diesem Kosmos eine ganz besondere Aufgabe oder Würde: das Ganze zu sein und ein Teil zu sein und dieses Paradox zu leben.

TS: Dieses Paradox beinhaltet auch, dass sich der ganze Prozess nur durch unsere Individualität weiter entwickeln kann. Der Prozess selbst hat Individualität hervorgebracht – sie ist Teil und Produkt des ganzen Prozesses. Dass wir als stark individualisierte Menschen des 21. Jahrhunderts hier sitzen können, haben wir diesem Prozess zu verdanken – und dieser Prozess kann sich auf der Ebene des Bewusstseins nur dadurch weiter entwickeln, dass wir uns daran in Eigenverantwortlichkeit, zum Beispiel in diesem Gespräch, beteiligen. Das Eine braucht diese Vielheit, um sich entfalten zu können.

SS: Noch ein Punkt ist für eine integrale Spiritualität wichtig: Das Verdienst der Aufklärung war, dass wir uns als Individuum selbst bewusst wurden. Individuen gab es schon vorher, aber in der Moderne erkannten wir uns bewusst als Individuum. Und in der Postmoderne kommt noch etwas hinzu: die Perspektivität. Wir sind nicht einfach nur Individuen. Wir alle werden durch unterschiedliche Verhältnisse verschieden geprägt. Auch Erleuchtung zeigt sich durch uns mit unserer je besonderen Prägung, mit unserem je eigenen Geschmack. Du als Thomas verwirklichst es anders, als ich als Sonja. Jeder verwirklicht sozusagen den Geschmack des Ganzen – diese Einheit, aus der wir alle kommen und die wir sind – mit unserem besonderen „Geschmäckle“. Denn sonst ist es wie bei einem Puzzle, das immer aus den gleichen Teilen besteht. Das ist doch relativ langweilig.

TS: Absolut langweilig! Und gleichzeitig trifft diese je besondere Prägung auf die tiefe mystische Einsicht, dass wir alle nicht getrennt sind. Wir sind die individuellen Teile, aber nicht nur.

SS: Und es braucht die Einzelteile, um ganz zu werden. Es geht nicht um eine narzisstische Getrenntheit, wo sich alles um mich als Person dreht. Im Grunde genommen braucht es für das Einzigartige Selbst die klassische Erleuchtung. Wir brauchen die Erfahrung der Einheit und stellen fest, dass nicht alles nur Eins ist, sondern eine differenzierte Einheit. Aus der Einheit kommend sehen wir, was für einen Segen, was für ein Glück, was für eine Fülle die Verschiedenheit als existenzielle Dimension des Seins bietet.

TS: Das ist ein wichtiger Punkt. Es braucht unsere Individualität. Es braucht die Vielheit. Erst dadurch kann sich der Prozess weiter entfalten. Und dann kommt zu dieser Einsicht noch etwas hinzu: dass all diese Vielfalt der Ausdruck dieses einen Prozesses ist – oder vielmehr, dass wir selbst dieser Prozess sind.

SS: Ja, das ist GEIST-in-Aktion, der sich in einem fortwährenden Prozess entwickelt. Und die Frage ist: Wie kann man dem gerecht werden? Individualität ist ja von Anfang an vorhanden ist, sie ist kein Nebenprodukt des kosmischen Prozesses. Wenn man das nicht berücksichtigt, besteht die Gefahr, Individualität zu reduzieren oder sie nicht wirklich wertzuschätzen.

TS: Es würde der Individualität in der Rolle, die sie hat, nicht gerecht werden. Der Prozess als Ganzes kann sich nicht getrennt von unserer Individualität entfalten. Wir können uns als Menschen, oder um es stärker zu formulieren, der Evolutionsprozess kann sich auf der Ebene des Bewusstseins nicht weiter entwickeln, wenn wir uns nicht als Individuen weiter entwickeln.

SS: Ja, weil der Prozess sich nur in seiner Vielheit entfalten kann. Und jedes Puzzleteil oder jede individuelle Perspektive ist für den gesamten Prozess wichtig.

TS: Lass uns noch auf die Gefahren der jeweiligen Schwerpunkte eingehen. Du hast ja eine bereits angeschnitten: Wenn es keine Wertschätzung unserer Individualität gibt, besteht die Gefahr der Regression. Wir geben dann unsere Mündigkeit, unsere Eigenständigkeit auf. Daraus entsteht keine aufgeklärte Spiritualität.

Betone ich hingegen die Individualität zu einseitig, bleibt der Bezugspunkt meines Lebens meine kleine getrennte Welt. Dann sehe ich vielleicht diesen kosmischen Entwicklungsprozess, aber mein eigentlicher Bezugspunkt ist allein mein getrenntes Ich, mein persönliches Leben. Gerade in unserer narzisstischen Kultur ist das eine echte Gefahr.

SS: Diese Gefahr sehe ich auch. Man will dann sozusagen das Aufwachen zum Einen umgehen. So wird das Einzigartige Selbst rasch zum narzisstischen Selbst.

Wenn man andererseits nur das Eine betont, werden aufgeklärte Menschen davon abgeschreckt werden. Man könnte dann annehmen, spirituelle Entwicklung würde bedeuten, man müsste seine eigene Individualität dabei opfern. Individualität ist eine kostbare Errungenschaft der Evolution, gerade auch als Bewusstsein unserer Menschenrechte. Wie du weißt, bin ich auch Aktivistin für Kinderrechte und Demokratie. Wir müssen vermeiden, dass Menschen denken, sie müssten all das über Bord werfen, um in die zeitlose Dimension zu kommen.

TS: Es braucht all diese Dimensionen zusammen. Auch in diesem Gespräch, das wir gerade führen, sind sie alle präsent: Da ist diese Seins-Dimension; sie liegt immer allem zugrunde. Da ist aber auch die Werdens-Dimension; dieses Gespräch ist Teil eines universellen Bewusstwerdungs-Prozesses. Und wir haben die unterschiedlichen Perspektiven, die wir einnehmen können, unsere Eigenständigkeit, unsere Individualität. Wenn all das zusammen ein Ganzes sein darf, was bedeutet es dann, Mensch zu sein?

Vielleicht entfaltet sich in diesem Dialog etwas, vielleicht können wir etwas klären und dadurch entsteht ein reicheres Bewusstsein. Diesen Prozess, seine Nuancen und Dimensionen auch existenziell zu verstehen, ist meines Erachtens Teil der neuen Spiritualität. Wir selbst können zu einem kreativen Ausdruck dieses Prozesses werden und dazu braucht es meine Individualität, meine Verantwortlichkeit.

SS: Ja, und ich glaube, dieses tiefe Menschsein und die Erleuchtung gehören zusammen. Das Aufwachen zu einer tiefen Spiritualität finden wir ja erst in der Erkenntnis, wer wir eigentlich sind. Und dann brauchen wir die Erkenntnis der Vielfalt und Verschiedenheit des Menschseins und die Erkenntnis, dass die Schöpfung sich entwickelt. Sie ist ein Prozess. Durch ihn entfaltet sich der Kosmos in einer unendlichen Fülle, getragen von Schönheit, Fülle, Miteinander, Expressivität und Kreativität. Es geht eben nicht darum, was ich darin für mich bekommen kann, sondern zu erkennen, dass der ganze Kosmos in mir ist. Und wenn der ganze Kosmos in mir ist und ich im Kosmos bin, dann ist das eine Einheit, aber eine paradoxe und sehr differenzierte Einheit.

 

Sonja Student ist Lehrerin und heute im Kommunikationstraining, in der Demokratiepädagogik und der Arbeit für Kinderrechte aktiv. Sie beschäftigt sich seit Langem mit der Integralen Theorie von Ken Wilber und ist Mitglied im Vorstand des Integralen Forums, Mitbegründerin der Integralen Akademie und Ko-Autorin von Wissen, Weisheit, Wirklichkeit.

www.integralesleben.org

 

EnlightenNext Impulse 06

 

Radio evolve – Gespräch mit Sonja Student: http://bit.ly/2s0tC7h