Ein Interview mit Steve McIntosh über die postmoderne Kritik des Fortschritts

 

Intro

Ist der Mensch „die Krone der Schöpfung“? Für viele ist diese Formulierung zu einem roten Tuch geworden, und es wird schnell auf das destruktive Handeln verwiesen, zu dem der Mensch fähig ist. Und überhaupt: Sind die Natur und ihre Lebewesen nicht viel intelligenter als wir? Im Gespräch mit dem integralen Philosophen Steve McIntosh haben wir einmal einen Schritt zurück gemacht, um das große Bild unserer Evolution zu sehen, und ihn gefragt, worin er den besonderen Wert und die Verantwortung des Menschen sieht.

 

Evolve – Magazin für Bewusstsein und Kultur: In deinem neuen Buch Evolution’s Purpose entfaltest du eine umfassende Untersuchung über die Natur der Evolution, insbesondere der kulturellen Evolution. Die postmoderne Theorie hinterfragt dieses Konzept der kulturellen Evolution und des Fortschrittes vehement. Einer der Aspekte der postmodernen Kritik besagt, dass die Idee des kulturellen Fortschritts eine sehr anthropozentrische Sicht der Dinge ist. Es wird darauf hingewiesen, dass viele Krisen des 20. Jahrhunderts, besonders in Anbetracht der Zerstörung der Natur, aus dem anthropozentrischen Verständnis einer kulturellen Evolution rühren. Wie stehst du zu dieser Kritik? Wird hier nicht auf einen wichtigen Aspekt hingewiesen?

SM: Viele sagen, dass der Anthropozentrismus, bei dem die Menschen denken, sie seien anders und besonders gegenüber anderen Tieren, durch unsere Hybris zur Zerstörung der Umwelt geführt hat. Aber Menschen sind nicht nur einfache Mitglieder der biotischen Gemeinschaft. Unsere Körper mögen nicht so viel anders sein als die anderen komplexeren Säugetiere. Primaten oder andere intelligente Säugetiere haben in bestimmten Situationen einen Vorteil gegenüber den Menschen. Aber der Grund dafür, warum die Menschen behaupten können, etwas „Besonderes“ zu sein, liegt darin, dass die Menschen eine Ebene der Evolution  erreicht haben, die das Biologische transzendiert. Alles was man über den Menschen sagt, gilt bis zu einem gewissen Grad auch für Tiere, Tiere haben eine Wertschätzung für bestimmte Dinge, sie lieben ihren Nachwuchs, sie zeigen eine einfache Form kultureller Evolution, sie haben einfache Formen von Sprache. Aber die menschliche Kultur entwickelt sich offensichtlich auf eine Art, auf die sich noch keine tierische Kultur oder „Zivilisation“ jemals entwickelt hat, wofür unsere globale Zivilisation ein Beweis ist.

Ich sehe die Evolution als eine kontinuierliche Erschaffung zunehmenden Wertes, mit anderen Worten, die Dinge werden wertvoller, wenn die Evolution in der Zeit voranschreitet. Die menschliche Zivilisation ist ein emergierender Bereich der Evolution, der sowohl das Leben als auch die Materie transzendiert. Und ebendiese Emergenz hat das Leben und die Materie im Grunde wertvoller gemacht. Die Evolution gewinnt selbst durch diesen neuen Bereich an Wert.

ENIDu sagst, dass die Emergenz des Menschlichen das Leben wertvoller gemacht hat. Das ist eine starke Behauptung. Warum ist der Planet wertvoller, weil es die menschliche Spezies gibt?

SM: Alfred North Whitehead definierte die Evolution als eine „Zunahme der Fähigkeit, den intrinsischen Wert zu erkennen“. Und wenn wir uns diese Prozesse der Materie, des Lebens und des Geistes anschauen, die drei großen Bereiche der Evolution, dann können wir das lernen – zu erkennen, weshalb die Emergenz des Lebens zusätzlichen Wert zur Materie hinzufügt: weil es Wert in die Welt bringt.

Das Leben ist nur mit einer Form von Intentionalität denkbar, eine Absicht, zu überleben und sich fortzupflanzen. Ohne Lebensformen, für die Überleben und Fortpflanzung einen Wert darstellt, ist die Evolution des Lebens unmöglich. Weil das Leben einen neuen Wert ins Universum bringt, erschafft es einen Wert, den es vorher nicht gab. Und so wird durch das Leben auch die Materie wertvoller.

Wir als Menschheit können Werte auf einem viel höheren Niveau erkennen. Sicher können Tiere Schönheit, Wahrheit und das Gute auf ihre eigene Art wahrnehmen, aber Menschen können das Gute, Schöne und Wahre in viel höherem Maß erkennen. Der Beweis dafür sind die verbesserten Bedingungen, die die Menschheit in ihrer kulturellen Evolution erreicht hat.

ENI: Du beschreibst hier zwei Schritte: Mit dem Leben sehen wir den Beginn der Wahlmöglichkeit – hier wird Wert in die Wirklichkeit gebracht, weil zum Leben Entscheidung gehört, was aber ein Werturteil voraussetzt: Etwas wählt eine Möglichkeit und entscheidet sich gegen eine andere; wie zum Beispiel ein Tier, das das Überleben höher bewertet als den Tod. Und im menschlichen Bewusstsein werden wir uns mit der bewussten Erkenntnis der Wahl unserer Werte bewusst, wir diskutieren darüber und entwickeln sie –wir kennen keine andere Spezies, die sich über Werte verständigt. Wir sprechen hier also über eine Evolution der Innerlichkeit.

SM: Richtig. Wir betrachten das Leben und fragen, was es von der Materie unterscheidet? Ebenso wie es Biologen von einem materialistischen Standpunkt aus getan haben. Lynn Margulis, die kürzlich verstorbene bekannte Biologin, nahm einmal an einer dieser Konferenzen teil, bei der verschiedene Biologen ihre Kriterien zur Unterscheidung davon vorlegten, ob etwas lebendig oder nicht lebendig ist. An einer Stelle sagte sie: „Also Ihre Kriterien könnten bedeuten, dass man einen Thermostat für lebendig erklärt, weil er auf seine Umwelt reagiert und sich hoch und runter bewegt.“ Sie meinte, das, was wirklich den Unterschied ausmache, sei die Wahlmöglichkeit, die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen.

Der Komplexitätstheoretiker Stuart Kaufmann nennt Bakterien und die frühesten Formen des Lebens aufgrund dieser Fähigkeit zur Wahl „minimale molekulare Agenzien“. Obwohl wir analysieren können, wie ihre Entscheidungen durch eine Art Reaktion auf einen Stimulus zustande kommen, gibt es doch noch etwas Spontanes und Unvorhersehbares dabei. Kein Computer könnte das Verhalten der Bakterien vorhersagen, weil ihnen eine spontane Autonomie innewohnt. Beim Menschen zeigt sich eine freiere Form der Intentionalität, denn wir können nicht nur die Absicht zum Überleben und zur Reproduktion haben, wir können höhere Formen der Absicht entwickeln: die Absicht, nach dem Guten, Wahren und Schönen zu streben und die Welt für jeden zu einem besseren Ort zu machen. Wir können Absichten haben, die in einem einzigen Menschenleben gar nicht zu erfüllen sind. Und es ist genau dieser Grad an Freiheit der Absicht im Menschen, der die Evolution des Bewusstseins und der Kultur in einen neuen Bereich hinein befreit.

 

Das Interview führte Thomas Steininger.

Bio:

Steve McIntosh ist Anwalt, Unternehmer, Aktivist und Autor. In den letzten Jahren wurde er zu einer wichtigen Stimme der integralen Philosophie. Mit Integrales Bewusstsein schrieb er eine populäre Einführung in die integrale Theorie, sein neues Buch Evolution’s Purpose ist im letzten Jahr erschienen.

www.stevemcintosh.com

 

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