Die Evolution des Menschen zwischen Erleben und Erkennen

Die menschliche Kulturentwicklung kann man als Drama zwischen zwei Polen verstehen: unmittelbares Verbunden-Sein mit dem Leben und rationales Erkennen der Welt. Jede Zeit hat ihre eigene Antwort auf diese Spannung versucht. Welche neue Antwort finden wir heute. Oder anders gefragt: Wie können wir uns der Komplexität unserer globalisierten Welt stellen, ohne die intuitive Unmittelbarkeit des Lebens zu verdrängen?

Tom Steininger

In den letzten Monaten habe ich viel Zeit mit Gorillas verbracht. Auf Videokanälen wie YouTube finden wir heute eine riesige Auswahl von Dokumentarfilmen. Moderne Technologie erlaubt uns, zumindest virtuell in die fast unberührte Welt der Gorillas einzutauchen. Einige Aufnahmen der Berggorillas im östlichen Afrika haben mich wirklich überrascht. Neben viel unbefangener Geselligkeit sah ich bei diesen uns so nahen Verwandten viel Zärtlichkeit, „Menschlichkeit“ und manchmal auch Weisheit. In einer Filmsequenz hält eine Gorillamutter ihr Baby in beiden Händen. Mutter und Kind schauen sich einfach über Minuten in die Augen. Es war ein sehr „beseelter“, ja sehr „menschlicher“ Blickkontakt, der mich noch lange beschäftigte. Andere Dokumentationen zeigten die überraschende Weisheit oder auch den Witz dieser Tiere.
Ein Aspekt, der es so interessant macht, das Leben der Berggorillas zu studieren, ist ihre selbstverständliche Einheit mit sich und ihrer Umgebung. Es ist eine intuitive Lebensform, die wir Menschen so nicht mehr kennen. Als Bürger des 21. Jahrhunderts fragt man sich: Können wir von den Berggorillas noch etwas lernen? Ihre Unbekümmertheit, ihre Fähigkeit, einfach spontan in ihrem Leben zu stehen, berührt. Aber wir haben die überschaubaren Berge der Gorillas seit langem verlassen. Welche Rolle kann in unserer hochkomplexen Welt die intuitive Lebendigkeit spielen, die uns diese nahen Verwandten auf eine so „menschliche“ Weise zeigen. Vielleicht hilft ein Gang durch unsere gemeinsame Geschichte, um zu sehen, welche Rolle die Intuition für uns Menschen in einer globalen Welt spielen kann.

Am Anfang war die Sprache

Auf YouTube gibt es auch eine Vielzahl an Dokumentation über die letzten verbliebenen Naturvölker unserer Erde. Wie leben sie? Was ist ihr Verhältnis zueinander und zu ihrer Umwelt? Mich fasziniert immer wieder, dass die Sprache der Anfang unseres Menschseins zu sein scheint. Ob in abgelegenen Gebieten des Amazonas oder bei den Buschleuten in Südafrika, überall sitzen Menschen zusammen und scherzen, sprechen miteinander, streiten sich. Es ist die Sprache, die uns zu Menschen macht. Sie veränderte die Gebräuche bei der Jagd, den Umgang mit Werkzeugen aber vor allem unsere Beziehung zueinander. Bei den San in Botswana oder den Karitiana im westlichen Amazonas fällt besonders auf, welche Rolle der Ahnenkult spielt. Vielleicht ist das bewusst gestaltete Verhältnis zu unseren Vorfahren eine unserer ersten großen menschlichen Kulturleistungen. Bei den Naturvölkern verschwinden die Verstorbenen mit ihrem Tod nicht einfach aus der Gemeinschaft, wie man es bei Gorillas beobachten kann. Die Ahnen werden über Generationen in Geschichten lebendig gehalten. Der Clan findet seine eigene Identität über die vitale Beziehung zu den Menschen, die vor ihm kamen. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Wir sterben erst, wenn der letzte stirbt, der von uns erzählen kann.“ Ein In-der-Welt-Sein, das nur uns Menschen möglich ist, denn die Sprache erlaubt uns, durch Erzählungen unseren Ahnen eine neue Form von Leben zu geben. Sie leben in unseren Geschichten.
Die Geburt der Sprache muss ein tiefer Umbruch in unserer Welt gewesen sein. Gleichzeitig ging durch Sprache auch etwas verloren. Viele Naturvölker mit ihrer ausgeprägten schamanischen Kultur sprechen davon, dass ihre Vorfahren keiner Schamanen bedurften. Erst jetzt brauchen sie ihre Schamanen und deren Trancefähigkeit, um eine Brücke zu einer geistigen Welt offen zu halten, die ihren Ahnen noch unmittelbar zugänglich war. Dieser Wandel hat sich in allen Kulturen vollzogen – und ist einer von vielen Entwicklungsschritten kultureller Evolution. Je mehr wir zur Welt der menschlichen Sprache aufwachen, umso mehr brauchen wir scheinbar Vermittler zu dieser anderen Welt, die uns früher ganz natürlich offenstand. Unsere Sprache, die Dinge benennt und bestimmt, eröffnet uns eine Welt – und lässt gleichzeitig eine andere hinter sich.
Sprache selbst ist ein wunderbarer Gewinn. Mit ihrer Hilfe begannen Jäger- und Sammler-Gesellschaften damit, Samen nicht mehr sofort zu verzehren, sondern sie anzupflanzen, um so Nahrungsvorräte anzulegen. Tiere, die sie früher nur erlegt hatten, wurden gezähmt und aufgezogen. Die Neolithische Revolution, der Übergang zur Landwirtschaft, wurde durch die Sprache möglich. Durch die Sprache konnten die Menschen Ursache und Wirkung in einer viel größeren Dimension verstehen. Mit der „Erfindung“ der Zeit entdeckten wir die Jahreszeiten und wie sie einander bedingen. Mit den großen Mythen, später den großen Philosophien und dann der Wissenschaft erweiterte sich der Blick der Menschen immer mehr von ihrer unmittelbaren Umgebung zu einer immer umfassenderen Welt.

Platon verbannt die Dichter

Dieser weiter werdende Radius der Welt bringt auch mehr Komplexität mit sich. Wie reagiert man auf eine Welt, die sich nicht mehr unmittelbar zeigt? In allen großen Kulturen entwickelten sich durch Denken und Sprache immer komplexere Strukturen. Vom mythischen Denken gingen wir weiter in ein philosophisches Denken. In der europäischen Kulturgeschichte steht vor allem Platon für diesen Schritt in die Philosophie. Einfach gesagt versuchte Platon, die Welt ganz auf Ideen zurückzuführen, um diese Ideen dann durch Logik zu ordnen.
Es gibt ein kleines Detail in Platons Philosophie, das für mich diesen Übergang vom Mythos zum Logos besonders illustriert. In seinem Dialog über den idealen Staat stellt Platon eine eigentümliche Forderung auf. Er verlangte, dass die Dichter aus der Polis verbannt werden. Wie kommt jemand wie Platon dazu, die Dichter zu verbannen? Die Dichter, das waren Menschen wie Homer, dessen große mythologische Epen wie Ilias oder Odyssee auf die junge griechische Seele eine Wirkung ausstrahlten, die wir uns heute in ihrer magischen Kraft kaum vorstellen können. Im Gegensatz dazu verfolgte die Philosophie als sich gerade erst entfaltende Disziplin den Versuch, große Zusammenhänge durch Ideen und Logik zu verstehen. Insofern ist es verständlich, dass Platon diese junge Pflanze der Rationalität gegen die magische Kraft der alten Mythen schützen wollte. Die ganze kulturelle Blüte der klassisch griechischen Kultur verdanken wir dem Streben von Philosophen, die die neue Rationalität gegen die oft blinden Kräfte der Vergangenheit verteidigten.
Der Rationalismus, das Vertrauen in die Vernunft, wurde nicht nur zur Grundlage der Aufklärung, sondern auch der Menschenrechte und der Demokratie. Wir verdanken ihm viel. Aber zu welch absurden Blüten blinder Rationalismus führen kann, zeigte sich beispielsweise im 17. Jahrhunderts. Wenn René Descartes über Tiere nachdachte, kam er auch zu solchen Schlussfolgerungen: „Tiere sind nichts anderes als ‚Maschinen‘. Ihre Organe funktionieren wie eine Uhr. Das Herz wie eine Pumpe. Tiere sind gefühllos wie Metall. Der Forschergeist darf sie bedenkenlos erkunden, wie der Uhrmacher das Räderwerk einer Uhr.“ Wir müssen uns von unserer menschlichen Intuition schon sehr weit entfernt haben, um so denken zu können.

Gaia denken

Aber unsere Fähigkeit, mit unserem Denken die Komplexität der Welt zu erfassen, erlaubt uns auch eine Welt zu sehen, die wir sonst nicht wahrnehmen könnten. Ich denke hier zum Beispiel an die heute verbreitete „Gaia-Spiritualität“, in der wir die Erde als ein lebendiges Ganzes erfahren. Ohne Vertrauen in Rationalität und Wissenschaft gäbe es eine solche Gaia-Spiritualität nicht. Niemand von uns hat die Erde je gesehen – wir gewinnen allenfalls durch Aufnahmen aus dem Weltraum ein Bild von ihr. Unmittelbar nehmen wir nur den Horizont wahr, das, was sich in unserem Gesichtskreis zeigt. Allein dank unseres menschlichen Geistes, unserer Rationalität und der aus ihr hervorgegangenen Wissenschaft können wir die Erde als strahlend blaue Kugel im Weltall bewundern. Sie so „wahrzunehmen“, ist eine hochkomplexe intellektuelle Leistung. Es bedurfte der Philosophie und der aus ihr in den letzten Jahrtausenden erwachsenen Abstraktionsfähigkeit, um die Erde zu „sehen“. Doch wie können wir zu so etwas Komplexem wie der Erde (oder den Lebewesen auf ihr und dem Kosmos als Ganzem) eine lebendige intuitive Beziehung entwickeln? Seit wir durch Philosophie und Wissenschaft die Welt in ihrer Komplexität erschließen, stehen wir vor der Herausforderung, diese Komplexität anzunehmen und zu begreifen und gleichzeitig zu all dem, was wir in ihr erkennen, eine neue intuitive und lebendige Beziehung zu entwickeln.
Spätestens seit der europäischen Aufklärung erleben wir dieses ständige Hin und Her zwischen Rationalität und der Suche nach einer neuen Form der Intuition, die der Unmittelbarkeit unseres Daseins in der Welt gerecht wird. Die Romantik war die klassische Gegenbewegung gegen eine mechanisch-materialistische Aufklärung. Jean Jacques Rousseau zählt mit seiner Verherrlichung des „edlen Wilden“ zu ihren ersten Vertretern. Denker wie Novalis versuchten mit einer „Poetisierung des Denkens“ ein Gegengewicht gegen den Rationalismus zu formulieren. Auch Friedrich Nietzsche stellt in seinem Werk dem rationalen „apollinischen“ Denken ein wildes „dionysisches“ Denken entgegen, das die Welt wieder in ihrer Lebendigkeit erfahrbar macht. Auch im 20. Jahrhundert sehen wir immer wieder Bestrebungen, eine Lebenspraxis zu entwickeln, durch die wir der Welt auch intuitiv begegnen können. Die Reformpädagogik nach 1900 ist ein Beispiel dafür, auch die mit ihr verbundene Jugendbewegung oder das Werk Rudolf Steiners. Dort, wo die Romantik allerdings vor die Errungenschaften der Moderne und der Rationalität zurückging, zeigten sich auch neue Gefahren. Ein folgenschweres Beispiel ist die deutsche Jugendbewegung, die in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts zu großen Teilen im völkischen Denken aufging.

Du statt Es

Wie können wir uns also heute der Komplexität unserer Welt stellen, ohne die intuitive Unmittelbarkeit des Lebens zu verdrängen? Die unterschiedlichen Formen progressiver Spiritualität versuchen auf je eigene Weise hier Antworten zu entwickeln. Einen für mich besonders spannenden Ansatz dafür fand ich im Werk Martin Bubers. In seinem Buch Ich und Du schreibt er über die dialogische Natur unseres Menschseins. Erst in der dialogischen Beziehung werden wir wirklich Mensch. Die „Ich-Du-Beziehung“ unterscheidet sich radikal von der intellektuellen „Ich-Es-Beziehung“. Ich-Du bedeutet immer ein lebendiges, unmittelbares Wir. Dieses „Wir“ des Dialogs ist zunächst eine intuitive Wahrnehmung, keine logische Erkenntnis.
Der Dialog ist ein lebendiger Prozess, in dem wir uns als Menschen begegnen. Aber Dialog ist noch mehr: In ihm treffen sich auch Weltzusammenhänge. Das macht ihn zu einer Brücke zwischen der Komplexität der Welt und der Unmittelbarkeit unseres Lebens. Dialoge sind immer auch Begegnungen mit dem „Anderen“. Nur weil wir uns auch fremd sind, ist Dialog möglich. Alles andere wären Formen des Selbstgesprächs. Der große hermeneutische Philosoph Hans-Georg Gadamer spricht von der „Horizonterweiterung“, die in jedem Dialog möglich ist. Wir alle haben unsere eigenen Erfahrungshorizonte: persönlich, kulturell, auch spirituell. Wenn in einem gelungenen Dialog Verständnis entsteht, bedeutet das immer auch eine Verbindung unterschiedlicher Horizonte. In unseren Dialogen begegnet sich die Welt – in all ihrer Komplexität. Im Dialog werden unsere Welthorizonte Teil einer lebendigen Begegnung. Der Schlüssel ist diese Beziehungsqualität des Gesprächs.
Auch Johann Wolfgang von Goethe war einer der Denker, für die Beziehung eine besondere Rolle spielte. Das zeigte sich unter anderem in seiner Haltung zur Französischen Revolution. Unter dem Eindruck der Terrorherrschaft in Paris wurde Goethe damals zu einem entschiedenen Gegner der Revolution. Er sah es als einen ihrer Grundfehler an, dass Idealisten aber auch Eiferer sich von abstrakten Idealen zu Terrortaten hinreißen ließen. Als Alternative formulierte Goethe ein politisches Ideal, demzufolge wir uns nur dort wirklich engagieren können, wo wir auch in echten, menschlichen Beziehungsfeldern leben, in denen wir uns wirklich einbringen können. Natürlich idealisierte Goethe hier auch die überschaubaren Verhältnisse in dem kleinen Fürstentum Weimar, in dem er als Minister diente. Aber Goethe versuchte Zeit seines Lebens, Aufklärung und Wissenschaft in einer Weise miteinander in Beziehung zu bringen, in der die organische Lebendigkeit des Universums nicht vergessen wird.

Von den Gorillas zum Internet

Ist es in einer globalisierten Welt möglich, die Komplexität dieser Welt denkend anzuerkennen, wie es durch Philosophie und Wissenschaft möglich ist, und gleichzeitig auf eine lebendige, intuitive Art mit der Welt und miteinander „in Beziehung“ zu bleiben? Wahrscheinlich ist das eine der Aufgaben einer progressiven, Spiritualität: Intellekt und Intuition gemeinsam zu entwickeln. Lebendige Dialoge scheinen mir hier ein wichtiger Knotenpunkt zu sein. In ihnen leben beide Dimensionen – die Unmittelbarkeit unserer Beziehungen und die vielschichtigen Erfahrungshorizonte, die jeder von uns in sich trägt.
Auch globale Zusammenhänge vermitteln sich über menschliche Dialoge. Ein sehr guter Freund von mir, mit dem mich eine lange gemeinsame spirituelle Arbeit verbindet, stammt aus Indien. In den letzten Jahren wurden die Verbindungen aber auch Gegensätze, die sich aus unserer kulturellen Herkunft ergeben, immer mehr Teil unserer Gespräche. Gerade weil mein Freund einen indischen Erfahrungshorizont hat, genauso wie mein Erfahrungshorizont mitteleuropäisch geprägt ist, haben unsere persönlichen Gespräche oft auch eine globale Dimension. Aber weil uns eine tiefe menschliche Beziehung verbindet, haben diese Gespräche, die durchaus auch Streitgespräche sind, eine intuitive menschliche Basis, die auch unsere kulturellen Erfahrungshintergründe verbindet.
Gerade durch das Internet entsteht heute eine neue Chance. Das Internet erlaubt uns nicht nur online das Leben der Gorillas in Ostafrika zu studieren. Es erlaubt uns auch, in einer neuen Weise globale persönliche Netzwerke zu entwickeln, über die wir weltweit in Beziehung und im Dialog bleiben können. Wenn es uns gelingt, globale Strukturen aufzubauen, die diese auch persönlichen Dialoge und Beziehungen halten, dann entsteht eine neue, vernetzte Wirklichkeit. Darin können wir globale Zusammenhänge in intellektueller Tiefe, aber auch in intuitiver Lebendigkeit miteinander gestalten.