Ein Gespräch mit Martin Ucik über die Entwicklung unserer Beziehungen und ….

 

THOMAS STEININGER: Die Beziehung zwischen Mann und Frau ist eines der Grundthemen des Menschseins. Du betrachtest das aus integraler Perspektive. Was ist das Besondere an einem integralen Verständnis von Beziehung?
MARTIN UCIK: Nun zunächst, dass sich unser Beziehungsverständnis stufenweise entwickelt. Für jede der Stufen gibt es Bücher, die ich während der Arbeit an meinem Buch studiert habe. Es gibt sie für egozentrische Männer und Frauen, die hauptsächlich das andere Geschlecht manipulieren wollen, um ihre Ziele zu erreichen. Bei den Männern dieser Stufe ist das Ziel normalerweise Sex, und bei den Frauen ist es, einen guten und reichen Mann zu finden. Bücher für konventionelle Männer und Frauen beschreiben  hauptsächlich klar definierte Geschlechterrollen, und wie man sich da einfügt. Sehr bekannt ist beispielsweise Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus. Es gibt darüber hinaus Beziehungsbücher für rationale Männer und Frauen, die Beziehungen entweder unter einem psychologischen oder wissenschaftlichen Aspekt betrachten, wie die von Helen Fisher über die Wirkung von Hormonen. Schließlich gehen Bücher für pluralistische Paare mehr in die Tiefe , um einerseits eine Seelenverbindung zu entwickeln und andererseits Heilung im Bereich des Schattens zu erreichen. Im Bereich der Sexualität wird in diesem Fall über Tantra und ähnliches gesprochen.

Es gibt also vier Gruppen: die egozentrischen, konventionellen, rationalen und pluralistisch-sensiblen Beziehungsansätze. Bei der Arbeit an meinem Buch fiel mir auf, dass diese Aspekte nie zusammen betrachtet wurden. So könnte man sagen, dass mein Ansatz alle früheren Ansätze integriert.
TS: Anhand der verschiedenen Beziehungsformen hast du die integrale Landkarte menschlicher Bewusstseinsevolution nachgezeichnet, und aus integraler Sicht haben ja alle Ebenen ihre Berechtigung.

MU: Richtig. Jede Stufe schafft Lösungen für die vorherige Stufe, kreiert aber auch eigene Probleme. Aus integraler Perspektive betrachtet man sowohl die hilfreichen oder nützlichen Aspekte einer Stufe als auch die weniger hilfreichen und erhält so differenzierteres Bild.

TS: Wenn man diese Entwicklung der Mann/Frau-Beziehung nachzeichnet – wie du es in deinem Buch getan hast – was verändert sich im Laufe der Entwicklung?
MU: Aus meiner Sicht ist das für Männer und Frauen unterschiedlich. Der Mann spürt, biologisch begründet, eine sehr starke Anziehung zu Frauen, die gesunde Kinder gebären können. Das bedeutet, dass sie oft jünger als er und sexuell attraktiv sind. Der Mann will meistens eine Frau, die ihn in seiner Lebensaufgabe unterstützt. Auf den unterschiedlichen Entwicklungsstufen verändert sich diese Lebensaufgabe stark, während die Anziehung der Männer zu einer jüngeren Frau gleich bleibt.

Frauen wählen weniger nach dem Aussehen. Im egozentrischen Bereich fühlen sie sich hauptsächlich zu Männern hingezogen, die ihnen Sicherheit bieten können. Auf der konventionellen Entwicklungsstufe sind Treue und Zuverlässigkeit wichtig – also die traditionelle Ehe. Auf der rationalen Entwicklungsebene tritt der Drang nach einem guten Leben in den Vordergrund. Frauen fühlen sich von Männern angezogen, die mit ihnen reisen, ein schönes Haus und Auto haben. Auf der pluralistischen Ebene wollen Frauen dann Männer, die auch mit ihren Gefühlen in Berührung sind.

Man kann sagen, dass Beziehungen bis zur pluralistischen Stufe immer bedürfnisbezogen sind. Erst auf der integralen Ebene sehen Männer und Frauen die einzelnen Entwicklungsstufen und können gemeinsam die Bedürfnisse neu verhandeln und erfüllen. Wir erwarten auf dieser Stufe nicht mehr, dass das andere Geschlecht uns Bedürfnisse nach Sicherheit, Treue, Unterhalt und gefühlsmäßiger Nähe erfüllt.

TS: Es ist eine spannende Beobachtung, dass Mann/Frau-Beziehungen bis zum Übergang zur integralen Stufe primär bedürfnisorientiert sind. Mit der integralen Stufe finden wir einen neuen Bezugspunkt und eine neue Möglichkeit, als Menschen zusammenzukommen. Beziehung ist ein Grundthema unseres Menschseins. Wir leben immer in Beziehungen. Wenn wir wirklich eine neue Stufe der Kultur entwickeln wollen, müssen wir also auch unsere Beziehungen transformieren.
MU: In der integralen Szene liegt der Fokus auf dem Individuum, auf der eigenen spirituellen und persönlichen Entwicklung. Oder man spricht über Kultur, größere soziale Zusammenhänge und das Wir. Aber relativ wenig Leute sprechen über eine neue Form der Mann/Frau-Beziehung, weil es so ein aufgeladenes Thema ist.

TS: Es gibt kaum aufgeladenere Themen. Auch ist es ein ziemlich hoher Anspruch, Beziehungen aus einem Verständnis von Bewusstseinsentwicklung zu leben. Wir brauchen dafür den Kontext einer evolutionären Spiritualität. Unsere Beziehungen bekommen eine andere Bedeutung, wenn sie Teil eines großen evolutionären Werdens sind. Das schafft eine neue Grundlage für unser gemeinsames Leben.

Aber wir stehen in unseren Mann/Frau-Beziehungen natürlich im Spannungsfeld unserer gesamten, Jahrtausende alten biologischen und kulturellen Konditionierung. Es gibt kaum ein Feld, wo unser Bewusstsein so getestet wird, wie im Zusammenkommen zwischen Mann und Frau. Das macht es auch so spannend. Wir können hier wirklich etwas Neues kreieren. Und wir müssen erst noch herausfinden, wie wir unsere Mann/Frau-Beziehungen und unsere Sexualität in einem integral-evolutionär informierten Kontext wirklich leben können.

MU: Ja, das Spannende auf der integralen Ebene ist, dass Männer und Frauen bereit sind, ihre Geschlechterrollen zu hinterfragen und bewusst neu zu definieren. Aber auch der Sinn einer Beziehung ändert sich. Die meisten Menschen wählen ihren Partner, wenn sie Schmetterlinge im Bauch spüren und sich sexuell angezogen fühlen. Sie denken, dass sich alles andere klären wird, was natürlich nicht der Fall ist. Aber in einer integralen Beziehung entsteht Raum, um zu fragen, ob man wirklich zueinander passt, ob man gemeinsam durch einen Wachstumsprozess gehen will und ob die Lebensziele übereinstimmen. Das ermöglicht, gemeinsam ein größeres Ziel zu verfolgen. Beziehung geht so über unsere eigene Selbstverwirklichung hinaus. Dieser größere Zusammenhang ist ein entscheidendes Merkmal integraler Beziehungen.

TS: Es kommt auch eine spirituelle Dimension mit ins Bild, wenn wir uns gemeinsam als Ausdruck des sich entwickelnden Bewusstseins erfahren. Dann können Mann/Frau-Beziehungen ein Weg sein, um diesen evolutionären Prozess weiter zu gestalten. Das kann eine neue tragfähige Basis für unser geschlechtliches Miteinander werden und zwar genau an diesem Drehpunkt, den du beschrieben hast, wo wir uns von einem rein bedürfnisorientierten Zusammensein hin zu Beziehungen entwickeln, die sozusagen bewusstseinsorientiert sind.

MU: Es ist ein Zeichen dieser neuen Beziehungsform, dass wir uns nicht mehr bedürftig und unvollständig empfinden, sondern unser Leben und unsere Beziehungen aus einem vollständigen und innerlich erfüllten Bewusstsein gestalten. Denn der Grund für das Zusammensein auf den integralen Bewusstseinsstufen ist eine höhere Aufgabe.

TS: Ja, denn wie du gesagt hast, sind die Ziele einer Beziehung auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung radikal verschieden. Die gemeinsame Aufgabe zu erkennen, beinhaltet eine wirklich spirituelle Dimension – eine Dimension, in der wir uns als bewusstseinsfähige Wesen und als bewusster Ausdruck eines umfassenden Lebensimpulses erkennen. In diesem weiten Kontext kommt unseren persönlichen, psychologischen Problemen eine viel geringere Bedeutung zu. Hier erkennen wir eine post-psychologische Dimension, und diese zeigt sich nicht beim Durcharbeiten psychologischer Probleme. Sie zeigt sich, wenn wir uns auf einen größeren Kontext einlassen.

Die Postmoderne war das Zeitalter der Psychologie, das mit Freud und Jung anfing, was damals ein großer Schritt nach vorne war. Die Tiefenpsychologie hat uns Innenräume aufgeschlossen, die uns vorher so nicht zugänglich waren. Aber es war auch der Anfang einer Fixierung auf unsere persönlichen Welten. In dem Moment, wo ich allerdings wahrnehme, dass mein persönliches Leben Teil eines großen Werdenskontextes ist, können wir unser Leben völlig anders ordnen. Wir können es auch emotional anders bewältigen. Wir haben die Möglichkeit zu größerer menschlicher Reife.

MU: Wir sind dann nicht mehr in einer Beziehung, weil uns der Partner glücklich macht, sondern weil wir zusammen den evolutionären Impuls zum Ausdruck bringen wollen. Wenn wir als Partner eine gemeinsame Lebensaufgabe verfolgen, dann spüren wir eine unheimlich starke Synergie. Wir schauen als Partner gemeinsam in eine Richtung, nach vorn, statt uns gegenseitig anzusehen und zu erwarten, dass wir einander glücklich machen.
Bio:

Martin Ucik wurde in Deutschland geboren und kam als Unternehmer in die USA. Er wurde von Eckhart zum Power of Now-Gruppenleiter ausgebildet einen Verein für gesunde Beziehungen, www.singles2couples.org. Er beschäftigte sich eingehend mit Ken Wilbers Integralem Modell und studierte über 200 Beziehungsbücher, daraus entstand sein Buch Integrale Beziehungen: Ein Handbuch für Männer (Phänomen Verlag). www.integralrelationship.com

 

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Radio evolve – Gespräch mit Martin Ucik: http://bit.ly/2t45two