Ein Interview mit Pia Gyger über Zen, evolutionäre Mystik und Liebe im Zölibat

 

RADIO EVOLVE: Sie sind christliche Ordensfrau und Zen-Lehrerin in der Tradition von Pater Lassalle, der als Jesuit einer der Ersten war, die die Verbindung zwischen christlicher und östlicher Spiritualität in Europa verbreitet und gelebt haben. Wie verbinden Sie diese beiden Traditionen, die ja im ersten Anschein unterschiedliche Schwerpunkte setzen? Im Gegensatz zur christlichen Spiritualität steht Zen ja vor allem für eine Spiritualität der Leere.

PIA GYGER: Ja, aber das ist nur der eine Teil. Zen hat vier Stufen des Erwachens. Die erste Stufe heißt Zanmai – Eintritt ins Versunkenheits-Bewusstsein. Die zweite Stufe heißt Satori – Erwachen aus der Illusion der Getrenntheit oder die Erfahrung der Einheit allen Lebens. Die dritte Stufe heißt Kensho und steht für die Erfahrung der Leere. Und die vierte Stufe, Mujodo-no taigen, bedeutet: Der Alltag ist der Weg. Im ganz konkreten Alltag müssen wir die Einheit und Leere, die wir erfahren haben, umsetzen.

Mystik ist ein sehr allgemeiner Begriff und bedeutet zunächst einfach die Erfahrung von Einheit und Leere. Die finden wir in allen Religionen unterschiedlich formuliert. Es geht um die Einheit allen Lebens und dann eventuell noch um die Leere.

Als wir mit Zen anfingen, haben wir nach unseren eigenen Quellen gesucht, die Ähnliches aufzeigen. Unsere deutschen Mystiker haben das auch wunderbar formuliert: Meister Eckhart, Johannes Tauler und viele mehr, auch einige spanische Mystiker.

 

Ein Sinn für den Kosmos

ENI: Vor allem, wenn man Meister Eckhart liest, spürt man bis in die Sprache hinein eine Mystik, die man eigentlich eher mit dem Zen verbinden würde. Dann ist aber noch ein anderer Einfluss für Sie sehr wichtig: Der Pionier einer evolutionären Spiritualität Teilhard de Chardin, der für eine moderne Spiritualität steht, die sich auf die Erkenntnisse der Evolution bezieht.

PG: Teilhard de Chardin ist eine große Inspiration, denn er findet eine zeitgemäße Sprache. Er nennt unsere Zeit nicht die Zeit der Globalisierung, sondern die Zeit der Planetisation. Und er sagt, wenn die ganze Menschheit zum ersten Mal zusammenkommt und vernetzt ist, dann brauchen wir drei neue Sinne: einen Sinn für die Menschheit, einen Sinn für die Erde und einen Sinn für den Kosmos. Wir haben Satelliten und Astronauten im Weltall. Aber wir müssen diesen Sinn für den Kosmos auch in unser Bewusstsein holen und erkennen, dass wir Teil dieses Kosmos sind.

ENI: Teilhards Anliegen war die Entwicklung des Kosmos, die er tief spirituell verstanden hat. Es gibt eine Formulierung von ihm, in der er sagt: „Der neue Gott ist der Gott der Evolution.“ Und viele seiner theologischen Schriften enthalten diese Dynamik des Aufbrechens zu etwas Neuem. Wie sehen Sie die Verbindung zwischen der Erfahrung von „Kensho“ im Zen, jenem mystischen Urgrund jenseits von Zeit und Raum, der auch bei Meister Eckhart eine große Rolle spielt, und dieser, ich würde sagen, neuen und feurigen Spiritualität eines Teilhard de Chardin?

PG: Die Verbindung ist der erwachte Mensch, der im Alltag ein Bewusstsein von der Einheit allen Lebens aufrechterhält und daraus agiert und nicht mehr aus der Illusion der Getrenntheit lebt. Zen sagt uns: Der Unerwachte lebt in der Illusion der Getrenntheit. Erwachen bedeutet, immer mehr aus dieser Getrenntheit herauszukommen und hineinzufinden in die Erfahrung der Einheit allen Lebens in jedem Moment, und dann entsprechend zu handeln. In der heutigen Zeit scheinen mir Teilhards drei neue Sinne sehr wichtig zu sein, besonders der Sinn für die Menschheit.

 

Ein Sinn für die Menschheit

TS: Ich finde es besonders erwähnenswert, dass er hier nicht sagt „ein Sinn für die Menschen“, obwohl er das sicher auch meint, sondern „ein Sinn für die Menschheit“. Dahinter steht ein anderes Bewusstsein, das er, wie mir scheint, auch erstmalig so sehen und formulieren konnte. Eigentlich sind wir als Menschheit erst seit wenigen Jahrzehnten in einer Weise zusammengekommen, dass wir uns auch als diese lebendige Einheit wahrnehmen können. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, dass wir nicht nur aufgrund von Technologien wie dem Internet zu einer neuen Einheit zusammenwachsen. Vielmehr geht es um eine Einheit, die auch Rückwirkungen auf unsere Mystik, auf unsere Spiritualität haben muss.

Ich möchte gern mehr über einen sehr spannenden Satz von Ihnen hören, in dem Sie Folgendes schreiben: „Dabei wurde mir deutlich, dass sich die spirituellen Wege der verschiedenen Traditionen in zwei Hauptströme einteilen lassen: Die einen erfahren die Materie getrennt von der letzten Wirklichkeit, die anderen sind sozusagen die Hüter der Materie. Bei ihnen kommt alle Materie aus Gott, hat in ihm Bestand und befindet sich in einem Prozess der Wandlung und Höherentwicklung. Für mich gehören die beiden Richtungen unabdingbar zusammen. Es gehört offenbar zu meinem Weg, dem Prozess der Transformation der Materie mit allen Kräften zu dienen.“

PG: Als meine Zen-Meister vor allem das „Nirwana“ als Ziel aufzeigten, die Auslöschung aller Gegebenheiten der ganzen phänomenalen Welt oder das große Nichts, da habe ich ihnen gesagt: „Das ist nicht unser Ziel! Wir sind Christen, wir lernen voller Dankbarkeit von Ihnen, aber Christentum heißt auch Auferstehung der Materie und Transformation der Materie. Wir sind der Überzeugung, dass Auferstehung nicht erst nach dem Tod beginnt. Man kommt nicht an der Materie vorbei.“ Es wäre eigentlich Aufgabe des Christentums, eine Mystik der Auferstehung zu entwickeln. Das ist aber leider in den Kirchen noch nicht sehr verbreitet.

TS: Die Auferstehung des Fleisches ist ein spannender Gedanke und – zumindest aus meiner Sicht – auch eine radikale Neuinterpretation der Auferstehung. Die Auferstehung ist demnach etwas, das nicht nach dem Tod, sondern hier in diesem Leben beginnt. Kann man sagen, dass unsere Aufgabe als Menschheit in unserer körperlichen Existenz auch in der Transformation eben dieser Existenz besteht? Damit ist unsere körperliche Existenz aber nicht nur im Sinne unseres individuellen Körpers, sondern auch der ganzen Welt gemeint.

PG: Oh ja. Dazu hat Teilhard de Chardin wunderbare Dinge geschrieben. Und unser Pater Lassalle hat seine Zen-Meditation als Schüler von Teilhard und des Zen-Buddhismus vollkommen in diesen Dienst gestellt, weil für ihn ganz klar war: Die Materie hat sich immer weiter entwickelt. Teilhard beschreibt in seinem Buch Die Entstehung des Menschen wunderbar, wie oft sich vom Homo erectus bis zum Homo sapiens die Gestalt des Menschen schon gewandelt hat, und er zeigt an vielen Stellen auf, dass diese Entwicklung immer weitergeht.

TS: Wenn ich Ihre Bücher lese, finde ich auch immer wieder einen Ton, der sich insofern von vielen buddhistischen und christlichen Beschreibungen von Spiritualität abhebt, als Ihre Beziehung zur Leiblichkeit nicht nur eine abstrakt positive ist, sondern es kommt darin auch eine tiefe Leidenschaft für unser Hiersein zum Ausdruck.

PG: Ja, das ist mir wichtig. Was heißt es denn, wenn Paulus vom Leib als dem Tempel des Heiligen Geistes spricht? Wir sind mit dem Verstehen dieser Worte noch ganz am Anfang und ich versuche jeden Tag, immer mehr herauszufinden und zu erspüren, was es bedeutet. Im Moment liebe ich ein ganz einfaches Kindergebet am Morgen im Bett. Für mich war Jesus, der Christus, schon immer die große Liebe meines Lebens. Ich bitte also einfach: „Gib, dass ich Dir heute mit meinem Leben, mit allem, was ich tue, Freude machen kann.“ Und dann bitte ich alle meine Zellen, sich in Freude diesem Dienst an der Menschheit hinzugeben.

TS: Sie sind für viele Menschen auch spirituelle Lehrerin. Was ist das für eine Spiritualität und für ein Leben, das sich aus so einer radikalen Bejahung des Lebens ableitet? So wie ich Sie verstehe, bezieht sich das Hiersein nicht allein auf ein privates Leben, sondern wirklich auch auf unsere kosmische Anwesenheit.

PG: Teilhard hat wieder und wieder aufgezeigt, dass der Mensch in diesem Universum eine ganz wichtige Rolle innehat. Und es ist regelrecht erschütternd, wenn er aufzeigt, wie der Homo erectus sich aufgerichtet hat und zum ersten Mal hinaufschaute zu den Sternen und sich die Frage stellte: „Wer bin ich? Warum bin ich hier?“ An dieser Frage haben wir alle immer noch zu arbeiten. Und das geht nicht ohne den Leib und ohne ein ganz tiefes Ernstnehmen und eine tiefe Achtung auch vor der Verwandlungsfähigkeit des Leibes.

 

Ein Sinn für die Erde

TS: Und das ändert natürlich auch die Verbindung zu unserer Umwelt, zu unserer Erde, zu unserer Menschheit, nicht nur im Sinne eines geistigen Verständnisses der Menschheit in ihrer ganz realen Entwicklung. Wir sind auch als Menschheit eine lebende Wesenheit, die hier auf diesem Planeten eine große Bedeutung gewonnen hat. Spiritualität heißt nicht zuletzt, dass wir uns die Frage stellen müssen: Was heißt es, Mensch auf diesem Planeten zu sein?

Ich würde an diesem Punkt gern auch auf eine andere Dimension zu sprechen kommen: die faszinierende Beziehung, die Sie als katholische Nonne und Niklaus Brantschen als Jesuitenpater miteinander leben. Eine reale menschliche Beziehung im Geiste dessen, was Sie gerade versucht haben zu schildern.

PG: Ganz genau. Wir sind beide zölibatäre Menschen, und wir haben das beide nicht gewählt, sondern es war für uns eine Berufung. Ich wollte als junge Frau nie zölibatär leben. Ich wollte sieben Kinder, und für mich war es eine unglaubliche Erschütterung, als ich plötzlich verstand: Das ist nicht meine innere Berufung. Ich hatte damals während meines Psychologiestudiums zum Glück einen unglaublich guten Psychoanalytiker. Wenn ich weinte und sagte: „Ich will aber heiraten und Kinder haben“, dann sagte er: „Aber hören Sie auf Ihre Träume. Ihre Seele will etwas anderes.“ Es war schon ein sehr großes Geschenk, wie mein Analytiker mir geholfen hat, diesen Weg zu bejahen. Er sagte: „Es gibt nicht nur ein Müssen, das aus dem Über-Ich kommt, es gibt auch ein existenzielles Müssen.“ Man kann aus der Tiefe der Seele etwas müssen, das man am Anfang selber nie wählen würde. So war es bei mir. Mein Weg wurde ein zölibatärer Weg. Ich habe ihn dann ganz bejaht, und als ich Niklaus Brantschen kennenlernte, war er auch schon auf diesem Weg. Trotzdem haben wir gespürt, dass uns eine tiefe Liebe verbindet und ein tiefes Angesprochen-Sein von der Art und Weise, wie wir die Welt sehen, und dass wir dieser Welt dienen wollen, obwohl wir sehr verschieden sind. Und dieses Sich-Aufeinander-Einlassen hat ein paar Jahre gedauert. Wir haben aber von Anfang an gewusst, dass wir nichts verheimlichen wollen. Wir müssen unsere Oberen konfrontieren, unsere Gemeinschaften konfrontieren – es muss transparent sein. Und das haben wir immer gelebt.

TS: Wenn wir von einer persönlichen Beziehung sprechen – und gerade von einer Beziehung zwischen Mann und Frau – dann sprechen wir normalerweise von etwas, das eher kleine Kreise des Persönlichen umschreibt. Der Versuch Ihrer Beziehung scheint hingegen, Ausdruck von etwas sein zu wollen, in dem das zutiefst Persönliche im kosmischen Geist gelebt wird.

PG: O ja, das kann man wohl sagen!

TS: Und das stellt viele Ideen auf den Kopf, die wir in unserer Postmoderne in der Regel als den Kontext persönlicher Beziehungen sehen.

PG: Unsere Beziehung ist eindeutig Liebe. Wir haben mit der Zeit herausgefunden, dass wir eine Berufung als Mann und Frau für Projekte haben, die wir allein nie hätten machen können. Unsere Projekte sind unsere Kinder. Es gibt Berufungen, bei denen man dieses existenzielle Müssen irgendwann freiwillig bejahen muss oder darf. Am Anfang war der Entschluss am wichtigsten und am schwierigsten, aus innerster Berufung heraus auf körperliche Sexualität zu verzichten. Mit der Zeit wurde es aber auch immer schöner und die psychisch-geistige Ergänzung immer wichtiger. Und so haben wir auch gelernt, einander zu erzählen, wie es uns in der Tiefe geht. Was will unsere Seele heute? Was ist unser Angerufen-Sein ganz in der Tiefe? Bis wir dafür miteinander eine Sprache hatten, vergingen Jahre. Es braucht Zeiten der Stille und es geht auch nicht einfach nur so schnell zwischendurch. Es braucht Zeiten, in denen man wirklich Zeit hat, sich in der Tiefe zu begegnen und sich überhaupt erst einmal selber wahrzunehmen: Was tut sich bei mir? Und dann können wir lernen, das dem anderen mitzuteilen. Das ist wunderschön.

Aber es geht nicht ohne innere Berufung. Es ist eine Art innerer Entwurf, der so angelegt ist, ob man es nun so will oder nicht. Ich wollte etwas ganz anderes. Ich habe mir immer sieben Kinder gewünscht und eine große Liebe. Gut, die große Liebe habe ich bekommen, aber in einer ganz anderen Art und Weise. Wenn man spürt, dass es von innen her stimmt, wird es möglich, und trotzdem müssen wir solch eine Form der Liebe immer neu erlernen. Deshalb braucht es dazu ein großes Ja.

 

Das Gespräch führte Tom Steininger

Bio:

Pia Gyger ist katholische Ordensfrau und Zen-Meisterin. 1976 trat sie in das St. Katharinawerk, Basel, ein und wurde später dessen Leiterin. Sie studierte Zen unter Pater Enomiya-Lasalle und Meistern in Japan. Im Jahre 1995 gründete sie zusammen mit Niklaus Brantschen das Lassalle-Institut, welches sie bis 2003 gemeinsam leiteten.Zusammen gründeten sie zudem die Lassalle-Zen-Linie und die Kontemplationsschule Via Integralis und entwickelten das Projekt Jerusalem – offene Stadt zum Erlernen des Friedens in der Welt.

 

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