Thomas Steininger im Gespräch mit Johannes Heimrath

In den letzten 40 Jahre haben wir als Antwort auf die zunehmende Umweltzerstörung den Aufbruch einer ökologischen Alternativbewegung erlebt, die mittlerweile im Mainstream angekommen ist. Aber kann ein neues ökologisches Bewusstsein den weltweiten Krisen wirklich etwas entgegensetzen? Der Journalist Johannes Heimrath ist ein Pionier der Ökologiebewegung und heute davon überzeugt, dass ein ökologisch-sozialer Kollaps nicht mehr abwendbar ist und entwickelt bereits die Vision einer Post-Kollaps-Gesellschaft. Das evolve Magazin sprach mit ihm über die Zeichen der globalen Krise und seine Vorstellungen von einem gelungenen Leben.

 

THOMAS STEININGER: Lass mich gleich zum Anfang auf deine Sicht des Themas Zukunft kommen. Deine Hauptbotschaft besteht darin, dass es im Grunde keinen Sinn macht, sich zu überlegen, wie man den Kollaps vermeidet, stattdessen sollten wir uns überlegen, wie wir nach dem Kollaps leben wollen. Wie kommst du zu dieser Schlussfolgerung?

JOHANNES HEIMRATH: Das ist das Ergebnis Jahre langen Nachdenkens über den Wert dessen, was ich in meinem Leben getan habe. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre war ich Teil des alternativen Aufbruchs. Damals waren Worte wie Ökologie oder Nachhaltigkeit noch kein Begriff. Wir waren in dem besten Glauben, dass wir der Welt positive Impulse geben können. Obwohl ich sagen muss, dass wir in vielen Bereichen Pioniere waren und Spuren hinterlassen haben, ist die Bilanz, die man ziehen muss, herausfordernd. Wenn man diese positiven Entwicklungen mit dem vergleicht, was ansonsten in der Welt geschehen ist, muss man sagen, dass sich die Dinge stärker zum Krisenhaften gewendet haben. Wir sehen, dass der Abstand zwischen dem, was wir als lebenswerte Welt sehen, und dem, was die Realität zeigt und wo der Trend hingeht, so groß geworden ist, dass man diese Kluft gedanklich, seelisch und emotional kaum mehr überbrücken kann.

Die Zeichen des Zusammenbruchs

TS: Diese Krisen sind vielen Menschen bewusst: Klimaerwärmung, Weltwirtschaftskrise, soziale Krise, um hier nur einige zu nennen. Aber was führt dich zu der Annahme, dass der Zusammenbruch unserer Kultur notwendig ist, damit wir uns wieder in eine positive Richtung bewegen können?

JH: Ich meine nicht, dass der Kollaps notwendig ist, sondern dass er nicht mehr zu umgehen ist. Beinahe täglich erreichen uns Studien, die dies belegen. Wie beispielsweise die neuen Daten zum Klimawandel aus dem Bericht der Weltbank, wo klar gesagt wird, dass wir nicht mit zwei Grad Erwärmung, sondern mit vier oder fünf Grad Erwärmung rechnen müssen.

Oder nehmen wir die Ozeane, den pazifischen Müllwirbel, dessen Fläche fast doppelt so groß wie Deutschland ist. Dort kommen auf ein Kilogramm natürliches Plankton sechs Kilogramm Plastikpartikel, die den Ozean verseuchen. An manchen Stränden gibt es mehr Plastikpartikel als Sandkörner. Ist das jemals wieder rückgängig zu machen oder ist es nur der Anfang einer Entwicklung, weil dieser Müllwirbel ja weiter wächst? Zudem haben wir eine Versauerung der Ozeane. Zweieinhalb Milliarden Menschen beziehen ihren Eiweißbedarf aus den Ozeanen, wenn hier die Nahrungskette zusammenbricht, könnten all diese Menschen hungern. Auch die Veränderung der Klimazonen wird zu massiven Hungersnöten führen, so dass Flüchtlingsströme entstehen und die nationalen Grenzen unter Druck geraten. Das hat tiefe ethische Folgen: Was machen wir mit den Menschen, die nichts mehr zu essen haben?

Wo immer man hinschaut, stehen die Zeiger im roten Bereich. An irgendeiner Stelle wird es einen großen „Knack“ geben, und dann bricht das globale System zusammen, was sich dann auf alle Menschen auswirken wird.

Technologie und Boden

TS: Du hast hier viele reale krisenhafte Entwicklungen beschrieben, die uns große Sorgen machen können. Nun gibt es aber auch eine Reihe von Denkern, die auf positive Aspekte der Entwicklung hinweisen. Ein Beispiel ist der Zukunftsforscher Peter Diamandis, der Autor von Überfluss. Er setzt auf die Möglichkeiten der Technik und sieht ein Zeitalter des Überflusses auf uns zukommen. Er beschreibt zum Beispiel die Chancen des Internets: Im Jahre 2000 hatten zwei Prozent der Weltbevölkerung Zugang zum Internet, im Jahr 2020 werden es 60 Prozent sein. Eine Durchdringung von Afrika mit Handys, die jetzt schon bei 70 Prozent ist, wird einen globalen Dialog und eine globale Demokratie anstoßen, die uns unerhörte Möglichkeiten eröffnen wird. Er setzt auf die Fähigkeiten der menschlichen Kreativität, denn, so sagt er, wir befinden uns immer in Krisen und sind immer gefordert, Antworten darauf zu finden – und wir finden sie.

JH: Wir können hundertmal sagen, dass es ist die beste und friedvollste Welt ist und unser Leben viel länger dauert als früher – aber diese Welt ist nicht nachhaltig, und eine nicht nachhaltige Welt geht unter, egal wie weit entwickelt die Technik ist.

Aber natürlich lässt sich die gesamte Technikentwicklung nur als Ganzes betrachten; wir können nicht sagen, dass wir nur das Gute der Technik erhalten und das Schlechte hinter uns lassen wollen. Ein Beispiel ist die Medizintechnik. Die hoch technisierte Medizin funktioniert nicht ohne Halbleitertechnik, ohne Computer, ohne Internet, ohne Sicherheitskräfte, die die Ressourcen und Lagerstätten in der dritten Welt bewachen, damit diese überhaupt in der ersten Welt ankommen usw. Dieses Beispiel zeigt: Alles, was wir als wünschenswert erachten, benötigt exakt die Welt, die wir heute haben. Aber diese Welt ist nicht nachhaltig. Darauf gibt es sicher keine leichte Antwort.

Bei diesem Fokus auf die Technik wird aber etwas komplett übersehen: Das Wort Boden kommt darin nie vor. Wir haben in den letzten 20 Jahren einen Rückgang der fruchtbaren Äcker um 25 %. Das hat mit Internet gar nichts zu tun. Wir wissen durch das Internet, dass es so ist, aber wir werden dieses Problem durch keine Technologie dieser Art lösen.

Solange wir die Agrarindustrie nicht stoppen und auf eine völlig andere Art der Landnutzung umschwenken, können wir mit dem Internet einfach weitermachen bis wir verhungert sind. Was mir da immer wieder auffällt ist, wie fern solche intellektuell sicher brillanten  Leute von der ganz einfachen Tatsache sind, dass wir die Menschen ernähren müssen.

Leben ohne Technik?

TS: Ist die Alternative ein Radikalverzicht auf Technik? Oder ist die Alternative nicht vielmehr eine andere Anwendung von Technik oder eine Verbindung von Technik und einer neuen, spirituellen Wahrnehmung, dass Technik anders angewandt werden muss, um lebensgerecht zu sein?

JH: Ich kann hier natürlich nur einen doppelstrategischen Ansatz vertreten, denn wenn ich einen Gedanken publizieren möchte, muss ich die Technik nutzen. Wir sprechen gerade über eine komplizierte Konferenzschaltung, du nimmst es auf dem Computer auf, du wirst es transkribieren lassen, es wird gedruckt werden, es wird distribuiert werden – Voraussetzung für all das ist die Technik. Wir nutzen diese Technik, um Gedanken zu verbreiten, die möglicherweise schließlich diese Technik obsolet machen.

Wir haben in unserer Gemeinschaft und unserer Region inzwischen ein ganz wunderbares Netzwerk von ca. 60 Akteuren, in der wir uns darüber unterhalten, wie ein Leben nach dem Kollaps aussehen kann. Ein wichtiges Element ist, dass wir zu zyklischen Vorstellungen zurückkehren, die nicht mehr diesen technologischen Pfeil verfolgen, der immer höher, immer weiter, immer besser sein will. Auch in den kühnsten Vorstellungen einer Grünen Technologie gibt es immer noch einen Wachstumspfeil – und wir versuchen, diesen Ansatz zu verlassen.

Was kommt dabei heraus? Es kommt ein gutes Leben dabei heraus, in dem wir ohne Mühe auf bestimmte Sachen verzichten. Beispielsweise diese überbordende Mobilität, der wir alle mehr oder weniger unterworfen sind. Ich allein fahre im Jahr immer noch meine 70.000 km mit dem Auto. Jedes Mal, wenn ich irgendwo hinkomme und einen Workshop gebe, sage ich das.

Wir wissen, dass wir im Moment mit unserem bescheidenen Leben hier in unserer Gemeinschaft 1,8 Erden verbrauchen, weil allein schon der „graue“ ökologische Fußabdruck – die Infrastruktur, auf die wir zurückgreifen – 1,5 Erden ausmacht. Wir haben einen eigenen Garten, eigene Tiere, einen eigenen Wald, die wir mit so wenig technischen Aufwand wie irgendwie möglich bewirtschaften, und auch damit kommen wir nicht unter einen ökologischen Fußabdruck von 1,8 Erden. Und wenn die Entwicklung so weiter geht, brauchen wir 2030 zwei Erden und 2050 drei Erden pro Jahr. Wie soll das funktionieren?

Aber ich möchte mich nicht nur auf diese Sachargumente beziehen. Der eigentliche Grund ist ein tiefes, tiefes Gefühl, das ich habe, wenn ich aus dem Fenster schaue und beispielsweise sehe, wie stark die Natur unter dem Einsatz der Ackergifte leidet. Da brauche ich keine Zahlen, da brauche ich nur meine Augen und mein Herz. Wie hier die Linden, der Sanddorn und selbst der Ahorn an unserer Allee frühzeitig altern. Sie werfen schon vor dem Herbst das Laub ab. Das Laub wird nicht rot und golden, sondern es wird braun und fällt ab. Wenn ich an die Vögel denke, die früher da waren und heute nicht mehr da sind, dann genügt das eigentlich, um in mir eine Art Betroffenheit auszulösen, die einfach sagt: Ist das die Welt, die ich hinterlassen möchte? Nein, das ist nicht die Welt, die ich hinterlassen möchte.

Die Kraft der Utopie

TS: Wenn wir all diese krisenhaften Symptome an uns heranlassen, dann erwacht offensichtlich in uns eine tief menschliche Kraft, die es überhaupt erlaubt, eine Alternative anzustreben. Was ist für dich die treibende Kraft, die dich bewegt, nach Alternativen zu suchen?

JH: Das ist die Kraft unserer Vision – und ich unterscheide die Vision deutlich von der Illusion. Vision ist etwas, das du wirklich konkret vor dir sehen kannst und das sozusagen wie ein Gravitationszentrum für all deine Entscheidungen wirkt. Diese Vision kann man entfalten. Man kann eine gute Welt vor sich sehen. Diese gute Welt – also meine persönliche gute Welt – kommt mit sehr vielen Dingen weniger aus, als ich sie jetzt noch nutzen muss, um überhaupt diesen Gedanken in die Welt tragen zu können. Das ist das Paradoxe, denn ich lebe schon in der Welt meiner Vision. Bald, im Frühling, ist es wieder soweit, wenn ich früh mit meiner Handsense hinausgehe, mit der ich das Gras lautlos schneide. Ich kann das geschnittene Gras mit einer Holzkarre zu unseren Schafen bringen. Darin spüre sich eine ganz einfache Abgerundetheit, in der das Leben sehr viel Sinn ergibt. Was ich tue, hat eine Bedeutung, ich habe eine Verantwortung für ein Stück Land, für das Dorf, für die Menschen, die hier leben. Für mich wäre das schon völlig ausreichend.

Im gesellschaftlichen Kontext sehen wir, dass wir unsere Zukunft nicht auf der materialistischen Ebene aushandeln können. Wir müssen auch Dimensionen, die mit Spiritualität zu tun haben, nutzen, oder wie es heute auch genannt wird, die „Soft-Skills“. Denn die höchste Befriedigung erfahren wir erst, wenn wir das sichere Gefühl haben, dass unser Tun nicht schadet, sondern nützlich ist – nicht für irgendeinen fiktiven finanziellen Zweck, sondern für den Ort, an dem wir leben und für alles, was an diesem Ort lebt. Dann können wir auch eine gute neue Welt schaffen.

TS: Vielleicht können darin auch die Technik und das Internet neu zusammenfinden. Ich denke, das muss nicht auf dem Niveau von Sense und Leiterwagen beschränkt sein. Die Offenheit und globale Vernetzung, die uns das Internet ermöglicht, könnten eine neue, wirklich konstruktive und schöpferische Rolle übernehmen. 

Aber wie dem auch sei, wir sprechen über eine Utopie der Zukunft, die wir hier als Vision bilden können, sozusagen ein Raum für das Mögliche, der als dieses Gravitationszentrum wirkt, von dem du gesprochen hast. Und es ist eine der wunderbarsten Fähigkeiten der menschlichen Erkenntnis, sich in diese Räume der Utopie, begeben zu können und nach konkreten Schritten zu ihrer Verwirklichung zu suchen.

JH: Ja, es ist eine konkrete Utopie im Blochschen Sinne, die wirklich die Fundamente unseres Systems hinterfragt. Ein Beispiel: Bei einem Vortrag habe ich vor Kurzem über die Bergleute im Kongo gesprochen, die ohne Ausrüstung in die Stollen hineingehen, um Gold oder seltene Erden abzubauen, aus denen dann Dinge hergestellt werden, die unseren Wohlstand ausmachen. Ich habe dann gefragt, ob wir uns eine Welt vorstellen können, in der zum Beispiel das Metall für den Kugelschreiber, den ich benutze, nicht aus Zwangsausbeutung kommt, sondern aus freiwilliger Arbeit. Gibt es Menschen, die freiwillig ins Bergwerk gehen und zum Wohl der Menschheit Erze schürfen? Dann hat ein Mann in der ersten Reihe gesagt: „Ja, das würde ich machen. Ich bin jetzt 50, ich habe Kinder, ich habe eigentlich alles versorgt. Ich könnte mir vorstellen zwei Jahre ins Bergwerk zu gehen, einfach als Menschendienst.“ Diese Menschendienste wären zum Beispiel in der Kanalisation oder Müllabfuhr möglich – all diese ungeliebten Tätigkeiten, die man einfach verrichten muss, damit die menschliche arbeitsteilige Gesellschaft funktioniert. Die Idee des Menschendienstes ist ja etwas ganz großartiges, weil die Menschen nicht mit viel Geld nach Hause kommen, sondern mit Ehre und Anerkennung. Sie sind sozusagen Helden der Menschheit.

Können wir eine Ökonomie, auch eine technische Ökonomie schaffen, die nicht auf Lohnabhängigkeit, sondern auf Freiwilligkeit basiert? Und können wir uns zudem jederzeit bewusst sein, dass diese Ökonomie im Einklang mit der Leistungsfähigkeit der biologischen Systeme stehen muss? Das wären die Anzeichen einer Welt nach dem Kollaps.

 

Johannes Heimrath ist einer der Pioniere ökologisch-sozialer Erneuerung im deutschsprachigen Raum. Ursprünglich Komponist und Musiker, gründete er in den 70er Jahren eine Lebensgemeinschaft, die heute in Klein-Jasedow, Mecklenburg-Vorpommern lebt. Er engagiert sich lokal- und regionalpolitisch, ist Präsident der Europäischen Akademie der Heilenden Künste und gibt das kulturkreative Magazin Oya heraus. www.johannesheimrath.de

 

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