von Thomas Steininger

 

Wir alle sind Kinder der Aufklärung. Ihr verdanken wir unser heutiges Verständnis von unserer eigenen Individualität. Ihr verdanken wir auch unser kritisches Denken. In den Jahrtausenden zuvor, in den ursprünglichen Stammesgesellschaften und später in den Kulturen der Hochreligionen, bestimmte die Zugehörigkeit zu unserem Clan oder zu unserer Religion unser Denken und unser Bild von der Welt.

Erst in der Aufklärung lernten wir, uns als eigenständige Individuen zu verstehen. Martin Luther war einer der bedeutendsten Vorläufer dieser Entwicklung. In seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ spricht er davon, dass wir letztlich nur Gott und dem Evangelium verpflichtet sind. Deshalb war seine deutsche Bibelübersetzung solch eine Revolution. Sie erlaubte es den Bauern und Bürgern, die Bibel selbst zu lesen und zu interpretieren. Damit waren sie nicht mehr auf die Worte der Priester angewiesen. Ein erster Schritt aus der Unmündigkeit war damit getan.

Was heißt Aufklärung? Die bekannteste Definition stammt von dem Philosophen Immanuel Kant. Er bezeichnete die Aufklärung als die „Befreiung aus selbst verschuldeter Unmündigkeit“. Weder Klerus noch Adel sollten über uns und unser Denken bestimmen. Deswegen befreite dieser neue Geist auch die Wissenschaft. Wir lernten, die Welt zu erforschen und zu verstehen. Und jeder weiteren Generation von Wissenschaftlern gelangen neue, tiefere Einsichten in die Welt. Die europäische Aufklärung wurde ein ungeahnter Erfolg. Man übersieht heute, 200 Jahre später, zu leicht, welche Befreiung aus Elend und Not trotz aller Schwierigkeit der Siegeszug der Wissenschaft und auch die Marktwirtschaft gebracht haben.

Aber es gab auch Schattenseiten. Und mit der Aufklärung setzten zugleich die ersten Gegenbewegungen ein, die sich dieser Schattenseiten annahmen, allen voran die Romantik. Getragen von Künstlern und Philosophen versuchte sie aufzuzeigen, dass die moderne Wissenschaft in ihrem Denken zu kurz greift. Die immer materialistischer werdende Forschung entwickelte nur eine äußerliche Rationalität. Es gelang ihr nicht, so die Romantiker, die Innenseite der Welt zu sehen. Der romantische Dichter Novalis stellte in seinem Gedichtband „Hymnen an die Nacht“ dem, wie er es nannte, „Tagesbewusstsein“ der noch jungen materialistischen Wissenschaft eine Hymne an das „Nachtbewusstsein“ entgegen. Damit meinte er alle jene inneren Welten unseres Seelenlebens, denen die Naturwissenschaft zunehmend ablehnend gegenüberstand. Man kann Novalis wohl auch als einen Vorläufer der modernen Tiefenpsychologie sehen.

Denn es war auch genau diese Tiefenpsychologie, die am Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem großen Umschwung der Aufklärung führte. Sie führte zu einer Art zweiter Aufklärung, der Aufklärung unseres Seelenlebens. Die großen Psychologen dieser Zeit, Sigmund Freud und C. G. Jung, sahen sich als Entdecker der psychischen Innenwelt, als Erforscher der inneren Sphären des Ich. Und das war neu, denn bei den Philosophen der klassischen Aufklärung, bei Descartes oder Kant, war unser „Ich“ immer eine abstrakte Idee geblieben. Kant nannte es das „Transzendentale Subjekt“. Es war mehr der theoretische Boden seiner Philosophie, von dem aus er versuchte, die „Welt“ zu erkunden und zu verstehen. Freud und Jung sahen das „Ich“ ganz anders. Sie wandten den Blick nach innen. Das Ich wurde selbst zu einem neuen Kontinent und die Psychologen versuchten nun, dessen verschiedene Regionen – „das Bewusste, das Unbewusste, das kollektive Unbewusste“ – durch die neue Wissenschaft der Psychologie zu erforschen und zu verstehen.

Sigmund Freud sah sich immer als Erbe und Fortführer der Aufklärung. C. G. Jung und andere verstanden sich mehr als ihr Gegenpol. Wir dürfen auch nicht übersehen: Gleichzeitig mit der Geburt der Tiefenpsychologie entstanden in Europa auch ganz neue Formen der Spiritualität. Während der zwei Jahrhunderte der klassischen Aufklärung wurde unsere Zeit immer mehr zu einem Zeitalter des Materialismus. Jetzt aber entstanden einflussreiche Bewegungen wie Theosophie und Anthroposophie, die sich als Antwort auf den Materialismus ihrer Zeit verstanden. Anfang des 20. Jahrhunderts fand auch der indische Yoga zum ersten Mal Einzug in Europa. Und in den 20er Jahren kam es zu einer Fülle von Übersetzungen buddhistischer und taoistischer Literatur. Aber letztlich waren diese ersten Jahrzehnte auch nur eine Zeit der Vorbereitung.

Der Durchbruch kam später in den berühmten 60er Jahren. Damals wurde das neue psychologische Denken, aber auch neue Formen der Spiritualität, zu einer Massenkultur. Fachbegriffe wie Verdrängung, Neurose oder Unterbewusstsein wurden seitdem Teil unserer Alltagssprache. Und wer kennt nicht die Fernsehbilder vom Besuch der Beatles bei dem indischen Lehrer Maharishi Mahesh Yogi? Dieser Besuch der vier Popstars beim indischen Guru war als Medienereignis ein Meilenstein unserer Geistesgeschichte. Seit dieser Zeit ist Meditation zu einem Bestandteil einer experimentierfreudigen, fortschrittlichen Kultur geworden.

Die 60er Jahre haben in vielem unser modernes Weltbild auf den Kopf gestellt. Sie öffneten unseren Blick für das Subjektive, für unsere Innenwelt. Die „60er“ (und die „70er“) verstanden sich oft als Gegenbewegung zu den Idealen der Aufklärung. Die Rationalität selbst wurde vermehrt ganz infrage gestellt. Die Aufklärung verstand sich als eine Kultur des rationalen Denkens, die neue Kultur sah sich viel mehr als eine Kultur des intuitiven Fühlens. Und die Schattenseiten des Kapitalismus und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren für viele ein Anlass genug, überhaupt am Fortschritt der Menschheit zu zweifeln.

In Frankreich entstand mit dem Poststrukturalismus auch eine neue Philosophie, welche die gesamte Aufklärung infrage stellte. Gibt es überhaupt ein „Ich“? Aus der Sicht dieser postmodernen Philosophie sind wir nur eine Struktur von Zusammenhängen, ein offenes Netz von Interpretationen. In diesem Spiegelkabinett, in dem sich alles in allem spiegelt, wird unser Ich nur zu einer flüchtigen Reflexion seiner Beziehungen. Doch durch diese Radikalkritik der Moderne entsteht interessanterweise gerade heute eine neue Form des Denkens.

Ken Wilbers Vier-Quadranten-Modell zielt ja darauf ab, die Methoden der Naturwissenschaft und die Methoden der inneren Geisteswissenschaft, der inneren Wissenschaften und auch der postmodernen Multiperspektivität zusammenzudenken und ihnen einen gemeinsamen Rahmen zu geben. Das evolutionär-integrale Denken gibt dem poststrukturalistischen Spiegelkabinett einen neuen Kontext. Wenn alles, auch die Entdeckung des „Spiegelkabinetts“, Teil einer großen Entwicklungsgeschichte ist, dann ist es vielleicht wieder möglich, im Ganzen so etwas wie Sinn zu sehen.

Die neu entstandene Diskussion über eine „Evolution des Bewusstseins“ könnte eine neue Stufe der Aufklärung sein. In der klassischen Aufklärung stand das autonome Individuum einer Welt gegenüber, die es zu verstehen, aber auch zu beherrschen galt. Die Postmoderne lenkte den Blick der Aufklärung in unsere Psyche, unseren Innenraum. Heute beginnen wir langsam den Entwicklungszusammenhang zwischen außen und innen, zwischen dem Weltall und dem Weltinnenraum zu verstehen.

Auch diese Entdeckung hat ihre Vorläufer. Jean Gebser beschrieb schon in den 40er Jahren in seinem bahnbrechenden Buch Ursprung und Gegenwart über die Entfaltung des menschlichen Bewusstseins und den Übergang vom magischen zum mythischen, zum mentalen und integralen Bewusstsein. Und Philosophen wie Alfred Whitehead und Martin Heidegger erkannten in ganz unterschiedlicher Weise, dass die Welt kein „Objekt da draußen“ ist. Die Welt ist vielmehr ein Prozess aus Prozessen, ein großes, ungeteiltes Werden.

Aber es bedurfte vielleicht auch der Postmoderne und ihrer Multiperspektivität, damit dieser Prozess beginnt, sich in all seiner Vielfältigkeit durch uns Menschen zum ersten Mal selbst zu sehen.

 

EnlightenNext Impulse 04

 

Audio zum Thema, Radio evolve-Gespräch: „Wozu brauchen wir noch Sinn und Bedeutung?“ http://bit.ly/2sEGixM