Zwischen Internet und Leben

Unser Leben wird immer mehr von virtuellen Realitäten bestimmt. Was heißt es, vor diesem Hintergrund eine bewusste Beziehung zu unserer Leiblichkeit zu entwickeln? Denn vielleicht wird uns genau dieses vertiefte Leibsein einen neuen Umgang mit unserer Virtualität ermöglichen.

Thomas Steininger

Facebook nutze ich häufig und gern: Ich kann mit Freunden und Bekannten auf verschiedenen Kontinenten kommunizieren. Ohne das Internet und die sozialen Medien hätte ich zu vielen von ihnen keinen regelmäßigen Kontakt. Ich würde viele wahrscheinlich nicht einmal kennen. Auch viele andere tägliche Eindrücke kommen aus dem Internet – heute war es ein Artikel aus der Online-Ausgabe der „New York Times“, das YouTube-Video eines afrikanischen Denkers, das mir ein Kollege empfohlen hat, und Strandbilder aus Goa in Indien, wo eine gute Freundin gerade Urlaub macht. Und in meiner Inbox warten wieder einmal zu viele Emails auf eine Antwort. Die Internettelefonie mit Skype kommt mir immer noch wie ein kleines Wunder vor. Ein Bildtelefon – das war in meiner Kindheit ein absoluter Science-Fiction-Traum.
Meine frühen Morgenstunden beginne ich oft ganz anders. Jetzt im Winter ist die Nacht noch schwarz und kaum Töne sind zu vernehmen, wenn ich mit meiner Yoga-Praxis beginne. Jedes Mal ist es wieder erstaunlich, wie wenige aber gezielte Bewegungen und Dehnungen des Körpers, begleitet von meinem ruhigen Atem, mein „Hier-Sein“ auf eine grundlegende Art verändern. Es ist so, als würde in der eigenen Wahrnehmung ein Schleier fallen: Die Vitalität des Körpers, seine Spannkraft und der Rhythmus des Atems werden zu einer Wirklichkeit, die mich trägt und hält. Wer immer dieses Ich ist, das ich bin – es wird von der Lebendigkeit des Körpers getragen und gehalten. Vor dem Fenster, auf dem Nachbargrundstück, sehe ich während der Yoga-Praxis im Halbdunkel der Dämmerung eine große Tanne. Meine Yoga-Übung lässt mich auch diesen Baum auf eine ganz andere Weise sehen. Seine Lebendigkeit wird spürbarer und direkt wahrnehmbar. Die Körperpraxis des Yoga, der Baum vor dem Haus, die noch nächtlich ruhige Stimmung – alles verbindet sich zu einer gemeinsamen, lebendigen Gegenwart.
Was geschieht mit dieser lebendigen Gegenwart in einer Kultur, die immer mehr zu einer Computer- und Internetkultur wird? Unsere Welt wird durch diese Technologien auf eine nie da gewesene Weise verbunden. Aber die „Bildschirmkultur“ von Fernsehen, Computer und Internet hat ihre eigene Logik und Dynamik. Alles ist einen oder zwei Klicks entfernt. Wo erleben wir Gegenwart, wenn all die Daten und Welten beliebig über den Bildschirm in unser Bewusstsein strömen?

In der Bildschirmkultur

Unsere Computerkultur ist auch eine Kultur der Körpervergessenheit. Während meine Aufmerksamkeit in alle Richtungen dieser Welt geht – ein Video aus Afrika, ein Zeitungsartikel aus den USA, Urlaubsfotos aus Indien: Wo bin ich? Hat es in dieser digitalen Welt überhaupt noch eine Bedeutung, einen Körper zu haben? Oder brauchen wir gerade in dieser sich ständig beschleunigenden und komplexer werdenden digitalen Welt einen neuen Sinn für unsere Leiblichkeit? Vielleicht gibt es etwas, das wir nur über unseren Körper erfahren können. Lebendig sind wir nur in unserem Körper. Und die körperliche Gegenwart – eines Menschen, eines Hundes, eines Baumes, der Berge – lässt uns auch unmittelbar erfahren, was eine lebendige Beziehung ist: etwas, das über einen Bildschirm so nie möglich sein wird.
Fedelma und Sebastian Gronbach erzählen in dieser Ausgabe von evolve im Interview davon, was geschieht, wenn sie Menschen im Rahmen ihrer spirituellen Arbeit in die Berglandschaft der Alpen bringen. Nach einer gewissen Zeit in den Bergen, so sagen sie, beginnen sich die Gespräche zwischen den Menschen grundlegend zu ändern. Unwesentliches tritt in den Hintergrund, Wesentliches wird auf einmal wichtig. Die direkte „leibhaftige“ Begegnung mit den Bergen verändert uns.
Aber nicht nur die Begegnung mit den Bergen hat solch eine Wirkung, allein schon die bewusste Aufmerksamkeit für unseren eigenen Atem verändert uns. Sind Sie sich zum Beispiel gerade jetzt, während Sie diese Zeilen lesen, bewusst, dass Sie atmen? Was geschieht, wenn Sie sich jetzt einige Atemzüge Zeit nehmen, um Ihrem eigenen Atem zu begegnen?

Magie des Atems

Es braucht meist nicht mehr als zwei oder drei bewusste Atemzüge und unsere Gegenwart verändert sich grundlegend. Die Magie unseres Atems, wie bei jeder bewussten Körpererfahrung, besteht darin, dass wir unsere Anwesenheit wahrnehmen, bevor wir uns einen Gedanken dazu gemacht haben. Der bewusste Atem ist eine Erfahrung von Lebendigkeit und Verbundenheit. Viele Meditationspraktiken nutzen aus diesem Grund unseren Atem als Ausgangspunkt für ein waches Bewusstsein. Dabei ist es gar nicht so einfach, unseren Atem einfach nur wahrzunehmen. Gerade wenn wir bewusst unseren Atem beobachten, können wir fast gar nicht anders, als mit ihm aktiv etwas zu tun. Vielleicht verlangsamen wir den Atem. Vielleicht verspannen wir uns. Wir beginnen, irgendetwas zu tun. Das ist eine tiefe Gewohnheit. Es braucht viel Übung, um sich des Atems bewusst zu werden, ohne etwas mit ihm zu tun. Der bewusste Übergang des gewohnten „Ich atme“ zur Erfahrung von „Es atmet mich“ ist eine hohe Kunst der meditativen Gelassenheit. Im bewussten Loslassen des Atems kann es gelingen, dass auch das tätige Subjekt zur Ruhe kommt.
In unserer Beziehung zum Atem stecken mehrere Hunderttausend Jahre menschlicher Kulturgeschichte: Wir wurden von einem Teil der Welt zu einem tätigen Subjekt. Diese Veränderung spiegelt sich auch in unserer Beziehung zum Atem. Unsere frühen menschlichen Vorfahren, genau wie unsere nächsten tierischen Verwandten, die Bonobos oder Schimpansen, hatten wahrscheinlich keine Schwierigkeit, sich von ihrem Atem tragen zu lassen. Wie alle anderen Lebensformen haben wir als Leib begonnen. Wir atmeten und unser Herz schlug schon Millionen Jahre, bevor wir begannen, uns darüber Gedanken zu machen. Am Anfang waren wir Leib und im Laufe unserer kulturellen Evolution wurden wir zu einem bewussten Subjekt. Als Subjekt fingen an, uns „zu unserem eigenen Körper zu verhalten“. Statt Körper oder Leib zu sein, begannen wir, einen Körper zu haben. Das ist die Geschichte unserer Subjektwerdung als Mensch, aber auch eine Geschichte der Trennung und Entfremdung. Im Laufe der Geschichte erlebten wir unseren Körper immer mehr als ein Gegenüber, das uns manchmal sogar fremd war.
Als Menschen entdeckten wir mit unserer Fähigkeit zur Sprache eine neue symbolische, geistige Welt. Über Tausende Jahre lebten wir zunehmend in einer sprachlichen Welt – das ist Kultur. Wenn wir unsere Mythen ansehen, unsere ersten Aufzeichnungen dieser neuen sprachlich-geistigen Welt, können wir auch unseren Entwicklungsweg durch die Sprache und den Geist nachvollziehen. Unsere Helden veränderten sich am Laufe der Zeit, wie zum Beispiel in der griechischen Mythologie.
Einer der ältesten griechischen Helden ist Herakles. Er ist schon ganz griechischer Held, der seine eigene menschliche Autonomie gegen die mythologischen Kräfte des Olymps durchsetzt. Aber er war noch vollkommen ein Held des Körpers. Seine Heldentaten, wie die Tötung der neunköpfigen Hydra, waren Heldentaten, die er durch die Stärke seines Körpers vollbrachte. Odysseus ist ein späterer Held und repräsentiert einen anderen Typus. Diese berühmte Figur war bereits ein Held des Geistes. Odysseus benutzte in seinem Kampf gegen die mythologische Welt nicht seine körperliche Kraft, sondern seine List. Er besiegte den einäugigen Riesen Polyphem, indem er ihn in die Irre führte. Odysseus war ein Held des Kopfes, ein Held der List.

Körper und Geist

Dieser Übergang von Körper zu Geist fand in der griechischen Kultur in der Philosophie Platons ihren klarsten Ausdruck. Platon erklärte das Reich der Ideen zur eigentlichen Wirklichkeit, die materielle Welt war nur mehr ein Schatten dieser Welt der platonischen Ideen. Unsere ganze europäische Kulturgeschichte basiert auf Platons Vorstellung einer ursprünglichen Welt der Ideen. Auch die christliche Philosophie des Mittelalters entwickelte ihre eigene Version der platonischen Trennung von Körper und Geist. Selbst die Philosophie der Neuzeit lebt in dieser Tradition. Descartes brachte diese Vorstellung auf den Punkt: Unser Ich ist die „Res cogitans“, die denkende Substanz. Ganz im Gegensatz zu ihr steht die Außenwelt, die Natur und unser eigener Körper als „Res extensa“, die ausgedehnte Substanz. Unser Körper hatte nicht mehr viel mit uns zu tun. Vielleicht war diese Entwicklung notwendig, damit wir als Menschen zu einer bewussten Wahrnehmung unseres Ichs fanden, auf dem so viele unserer modernen und postmodernen Werte aufbauen.
Ein Neuanfang in unserer Beziehung zum Leib zeigte sich mit Friedrich Nietzsche, dem „Umwerter aller Werte“. Nietzsche ist der erste große Leibphilosoph der europäischen Moderne. „Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit“, ist ein bekanntes Zitat von ihm. Nietzsche misstraute den Idealen der europäischen Philosophie und wollte zurück zu einer ursprünglichen Lebendigkeit. Damit wurde er zur Inspiration der Lebensreformbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch der damals neu entstehenden Tiefenpsychologie und Psychotherapie. Sigmund Freud und C. G. Jung bezogen sich in ihrer Arbeit auf Nietzsche und seine Wiederentdeckung der Leiblichkeit.
Die Therapiebewegung der 70er Jahren hat viel dazu beigetragen, uns wieder mit unserem Körper vertraut zu machen. Die Arbeit des Freud-Schülers Wilhelm Reich wurde zur Grundlage einer ganzen Vielzahl von Körpertherapien – von Tiefenmassagen, Urschrei, Dynamische Meditation bis zu Tanztherapien und Holotropes Atmen.
Seit Jahrzehnten praktizieren viele in Europa eine neue Körper- und Bewegungskultur. Viele Menschen meiner Generation haben begonnen, sich neu auf den Körper einzulassen. Der integrale Philosoph Ken Wilber beschrieb in seinen frühen Werken den integralen Menschen als Zentauren – einen Menschen, der wieder zu seiner Körperlichkeit gefunden hat. Und Yoga ist heute zu einem Massenphänomen geworden. Doch wir brauchen nicht nur eine neue Körperkultur. Wir brauchen ein Bewusstsein unserer Körperlichkeit, durch das wir unserer Lebendigkeit treu bleiben können.

Leben und System

Wo stehen wir heute in unserer Beziehung zum Körper? Unsere moderne Zivilisation ist eine große Herausforderung für authentische Lebendigkeit. Der Grund ist nicht nur die Computerkultur und das Internet. Wir haben uns große technische und systemische Zusammenhänge geschaffen, die ihre eigene Dynamik entfalten. Diese Zusammenhänge gehen weit in unsere Geschichte zurück: Als wir anfingen, Staaten zu entwickeln, um immer größer werdende Gesellschaften zu organisieren, kamen mit ihnen auch staatliche Bürokratien. Wir entwickelten immer abstraktere Formen von Geld- und Marktwirtschaft und unsere großen technologischen Fähigkeiten schufen die abstrakten technologischen Systeme unserer Zeit. Der Philosoph Jürgen Habermas beschreibt diese historische Entwicklung als eine Ausdifferenzierung zwischen unseren konkreten Lebenswelten und neuer abstrakter Systemwelten, wie Bürokratie, Marktökonomie und Technologie. Habermas beschreibt als eine der großen Herausforderungen unserer Zeit die Gefahr, dass die Systemwelten unsere Lebenswelten zunehmend kolonisieren. Unsere Lebenswelten sind in Gefahr, zu einem Anhängsel abstrakter Systeme zu werden.
Unser Körperbewusstsein ist unsere direkteste Verbindung zur Lebendigkeit. Unsere körperliche Wahrnehmung zeigt uns den Unterschied zwischen System- und Lebenswelt. Vielleicht brauchen wir gerade deswegen ein neues Bewusstsein dafür, Körper zu sein.
Der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme spricht vom Leibsein als allgemein menschliche Aufgabe. Er bezieht sich hier auch auf den großen deutschen Zen-Lehrer und Leibtherapeuten Karlfried Graf Dürkheim. Dürckheim umschrieb seine spirituelle Arbeit mit dem Ausdruck: Es geht darum, vom Körper, den ich habe, zum Leib, der ich bin, zu werden. Er sah die Aufgabe unserer spirituellen Praxis darin, über die Trennung zwischen abstrakten Identitäten und der Vergegenständlichung unserer Welt, die wir uns in unserer Kulturgeschichte angewöhnt haben, hinauszugehen, um wieder ein lebendiger Leib zu werden.
Für Böhme können wir auch durch unsere Erfahrung als Leib unsere Trennung zur Natur überwinden. Denn, so Böhme, „Der Leib ist die Natur, die wir selber sind.“ Eine neue Körperkultur – besser gesagt, eine neue Leibkultur – erlaubt uns, in den immer umfassenderen Systemwelten, die wir uns erschaffen haben, in einer lebendigen Wirklichkeit verwurzelt zu bleiben. Die lebendige Natur, die wir sind, bleibt nicht bei unserem physischen Körper stehen, auch unsere lebendigen, zwischenmenschlichen Beziehungen und unsere Beziehung zur Erde und zum Universum sind Teil unserer leiblichen Wirklichkeit. Jürgen Habermas spricht von der Kolonisierung unserer Lebenswelten durch die Systemwelten als die größte Herausforderung unserer Zeit. Vielleicht kann eine Leibkultur, in der wir unsere Lebendigkeit bewusst kultivieren, auch einen Anfang bilden, um im Gegenzug unsere Systemwelten neu „zu verlebendigen“. Menschen, die sich ihrer Lebendigkeit und ihrer lebendigen Verbundenheit tief gewahr sind, werden auch mittels Computer und Internet, Skype und Facebook anders miteinander in Beziehung treten. Dann können wir auch unsere abstrakten Systeme, wie das Internet und unsere Gesellschaft als Ganzes, auf eine neue, menschliche Weise beleben.