von Thomas Steininger

 

Kann es sein, dass wir am Ende eines Zeitalters sind? Das 20. Jahrhundert war ohne Zweifel auch das Zeitalter der Psychologie – mit Pionieren wie Sigmund Freud und C. G. Jung und einer unübersehbaren Vielzahl von Therapien und neuen Erkenntnissen über unsere innere Welt. Und – wer von uns hatte noch keinen Kontakt mit Selbsterfahrung oder Psychotherapie? Selbst diejenigen, die keine Selbsterfahrung gemacht haben, kennen meist Freunde und Bekannte, die davon erzählen. Die Tiefenpsychologie ist ein fester Bestandteil der Medienwelt von RTL bis zur Bild-Zeitung geworden. Wir haben uns so sehr an unsere psychologische Sicht auf die Welt gewöhnt, dass wir oft vergessen, wie historisch jung diese Perspektive ist. Wie selbstverständlich sprechen wir von „Verdrängung“, von „unserem Schatten“ und „unseren Komplexen“, Dinge, von denen unsere Eltern oft noch keine Ahnung hatten.

Meine eigene erste bewusste Begegnung mit dieser neuen Sicht auf die Welt hatte ich 1976, und das ausgerechnet während der Olympischen Winterspiele, die damals im österreichischen Innsbruck stattfanden. Meine Eltern und ich wohnten während der Spiele in der Wohnung eines Innsbrucker Freundes mit einer großen Bibliothek. Das Buch, das mir dort in die Hände fiel und mich während der ganzen Zeit der Olympischen Spiele in seinen Bann schlug, war Sigmund Freuds Traumdeutung. Für den 13-jährigen Jesuitenschüler aus gut-katholischem Haus war dieses kleine Buch eine geistige Revolution. Ich las es während der Olympiade wie verbotene Literatur heimlich nachts im Bett, als alle anderen schliefen. Tagsüber begeisterten wir uns für die Siege unserer österreichischen Skifahrer und Skispringer. Nachts las ich diese Offenbarung, die ich zwar nicht verstand, die aber aus einer neuen und aufregenden Welt zu Kommen schien.

Dieses Büchlein war meine Initiation in den Zeitgeist der 70er Jahre. Mein Ausbruch aus dem katholischen Österreich entwickelte sich in den folgenden Jahren dann auch zu einem wilden Mix aus Freud, Marx, Ökologie und Meditation. Auf der Universität in Wien, an der ich später studierte, gehörte es bereits zum guten Ton, eine Form von Therapie oder Selbsterfahrung gemacht zu haben. Neben den politischen Aufbrüchen der Studentenbewegung begannen einige von uns auch mit spirituellen Erfahrungen zu experimentieren. Osho Rajneesh war in aller Munde. Seine eigenwillige Verbindung von Spiritualität und Psychotherapie war neu und provokant. Einige Freunde fühlten sich vom Zen angezogen. Und es gab immer mehr Therapien, die sich als spirituell verstanden. Ein Klassiker der damaligen Zeit war Erich Fromms Buch Die Kunst des Liebens, das Freuds Psychoanalyse und Marx’ Gesellschaftsanalyse mit der Mystik eines Meister Eckhart verband. Auch der Freudschüler Wilhelm Reich, ein Vordenker der sexuellen Revolution, hatte es uns sehr angetan. Wilhelm Reich votierte für „freie Sexualität“ als eine Möglichkeit, die „universelle Energie des Kosmos“ in uns zu befreien. So wurde er zu einem der Väter des modernen Tantra. Unsere Therapieerfahrungen verschmolzen bald auch mit ersten spirituellen Erfahrungen. So kam ich in einer Gruppentherapie, wo ich mit Schreien und Toben durch meine Familienkonflikte gegangen war, zu einer ersten Ahnung, dass ich von all diesen inneren Konflikten wirklich frei sein könnte. Es war wie eine Ahnung einer anderen, einer freien Dimension, die ich als tiefe Heilung empfand. Es war für mich eine Ahnung von spiritueller Erleuchtung und gleichzeitig das Versprechen einer ultimativen Psychotherapie.

Erst Jahre später wurde mir klar, dass die spirituelle Dimension auch ganz anders als durch die psychologische Brille gesehen werden kann. Während eines Retreats mit Andrew Cohen in Bodhgaya, einem nordindischen Dorf, wo der Überlieferung nach der historische Buddha seine Erleuchtung gefunden hatte, erzählte ich Andrew Cohen von meinen unterschiedlich tiefen Erfahrungen, die ich in den Tagen zuvor in meinen Meditationen gemacht hatte. Seine Antwort verblüffte mich. Andrew Cohen sagte mir, dass ich in meiner Meditation anscheinend noch immer nach bestimmten Erfahrungen suche. In der Meditation gehe es aber um die Freiheit von allen Erfahrungen. Er hatte recht, für mich hatte Meditation bis dahin vor allem mit jenem Teil in mir zu tun, der eine Erfahrung tiefer Heilung suchte. Doch was Andrew Cohen in mir ansprach, hatte mit dieser Suche nichts zu tun.

Mit der Zeit konnte ich auch erkennen, wie Andrew Cohens Evolutionary Enlightenment sich überhaupt nicht auf meine individuelle psychologische Erfahrung fokussiert, nicht einmal auf jene Erfahrung von persönlicher Freiheit, wie sie im Mittelpunkt traditioneller Erleuchtungslehren steht. Andrew Cohen spricht von einem möglichen radikalen Perspektivwechsel, durch den wir anfangen, uns nicht nur als einzelnes Individuum zu erkennen, sondern als jenen Bewusstseinsprozess, der das Universum seit seinem Beginn zu immer neuen Ebenen der Entfaltung führt. Kann es sein, dass wir heute, nach einem Jahrhundert der Psychologie, an eine neue Grenze stoßen, wo wir erkennen, dass unsere Innenwelt letztendlich nichts anderes als die sich entfaltende Innenwelt des Universums ist? Und dass wir zu anfangen zu erkennen, dass wir der bewusste Teil des Kosmos sind?

Der deutsche Autor Tom Amarque schreibt in seinem im Herbst erscheinenden Buch Wie wir wurden, wer wir sind – und was wir werden können von drei Wellen der Aufklärung. Die erste Welle der Aufklärung, die europäische Moderne, war eine Explosion der materialistischen Wissenschaft. Mit ihr erlangten wir bis dahin ungeahnte Erkenntnisse der äußeren Welt. In unserer postmodernen psychologischen Zeit sieht Tom Amarque eine zweite Welle der Aufklärung, in der wir begannen auf eine neue Weise uns unserer psychologischen Innenwelt bewusst zu werden. Und heute sieht er den Übergang zu einer dritten Welle.

In dieser neuen Aufklärung erkennen wir uns als der bewusste Teil einer universellen Evolution. Man könnte sogar sagen, die Evolution beginnt sich durch uns ihrer selbst bewusst zu werden. Die psychologische Perspektive des letzten Jahrhunderts weicht der neuen Perspektive einer bewussten Evolution. In Andrew Cohen und Ken Wilber sieht Tom Amarque zwei maßgebende Pioniere dieser Aufklärung 3.0.

Der Umbruch von unserer psychologischen zu einer evolutionären Sicht der Welt ist immer ein dramatischer Schritt. In den Seminaren von emerge bewusstseinkulur e.V erlebe ich es immer wieder mit Staunen, wenn eine Gruppe von Menschen, die es gewohnt ist, die Welt durch die psychologische Brille des sensitiven postmodernen Individuums zu sehen, diesen Perspektivwechsel wagt, wo wir uns zwar auch als Individuen sehen, aber in einer viel tieferen Weise: als diesen einen universellen Bewusstseinsprozess, der gerade beginnt , sich selbst zu erkennen. Besonders auf den langen Retreats mit Andrew Cohen gewinnt dieser Perspektivwechsel vom psychologischen zum evolutionären Selbst, von Andrew Cohen auch Authentisches Selbst genannt, eine existenzielle Wirklichkeit, die diese Retreats of zu einer so lebensverändernden Erfahrung macht.

Es scheint, dass diese dritte Aufklärung – der Anfang einer bewussten Evolution – in unserer Geistesgeschichte ein neues Buch aufschlägt. Auch wenn sich diese neue Perspektive erst in Umrissen zeigt, etwas Neues wird sichtbar. Das macht unsere Zeit so aufregend und reich.