Dialog als Weg in die Zukunft

Die Globalisierung schreitet immer weiter voran. Aber auf welchen Grundlagen beruht sie? Und wie sehen andere Kulturen diese Entwicklung? Nur ein offener Dialog zwischen den Kulturen kann diese Frage beantworten und uns zeigen, wie eine Welt aussehen könnte, in der die Vielfalt gewürdigt wird und zu neuen Synthesen findet.

Thomas Steininger

Leben wir in einer globalen Welt? Viele von uns würden diese Frage ohne zu zögern mit „Ja“ beantworten. Wir leben in einer globalen Wirtschaft, Markennamen wie Ikea, UPS und Apple sind allgegenwärtig. Die globale Medienwelt – mit Hollywood, dem Medienimperium von Rupert Murdoch, mit den Internetgiganten Google und Facebook – verbindet uns rund um den Globus. Die Finanzkrise 2008, deren Folgen wir noch immer durchleben, und aktuell die globalen Flüchtlingsströme sind weitere Zeichen unserer globalisierten Welt.
Aber die Globalisierung ist einseitig. Sie nahm ihren Ausgangspunkt vor 500 Jahren in Europa und wurde durch Eroberung und Kolonialisierung geprägt. Der Aufstieg der USA verstärkte den westlichen Einfluss und so hat die Globalisierung heute ein europäisch/amerikanisches Gesicht. Und das zeigt sich nicht nur in der Dominanz westlicher Konzerne und Massenmedien, sondern auch in unserem Denken. Deshalb ist es heute erforderlich, Globalisierung ganz neu zu denken, um zu einem echten Dialog der Kulturen zu kommen.

Die Würde der Kulturen

Ein indischer Freund hat mich vor einigen Jahren in vielen Gesprächen damit konfrontiert, wie sehr unser Denken im Westen die Welt aus einer amerikanisch/europäischen Perspektive betrachtet. Meistens sind wir uns dessen überhaupt nicht bewusst. Das gilt seiner Ansicht nach auch für neue Denkansätze, die sich vorgenommen haben, verschiedene Wissensbereiche und Kulturen zusammenzubringen, wie zum Beispiel die integrale Theorie Ken Wilbers. Die umfassende indische Geisteswelt, in vielem unserer abendländischen Geistesgeschichte mehr als ebenbürtig, wird aber auch im integralen Denken in einem Entwicklungsmodell gesehen, in dem sich viele meiner indischen Freunde nicht wiedererkennen. Vieles, was wir als kulturelle Entwicklung sehen, ist in ihren Augen eher eine Verwestlichung. Sie werfen die Frage auf: Könnte es sein, dass eine indische Moderne oder Postmoderne, eine afrikanische Moderne oder Postmoderne, eine chinesische Moderne oder Postmoderne viel eigenständiger sind und sein werden, als wir gedacht haben? Was ist an der Moderne, wie sie sich bei uns entwickelt hat, einfach nur europäisch? Vielleicht haben die verschiedenen Weltkulturen ganz eigene und eigenständige Beiträge für die entstehende globale Welt. Die menschliche Evolution ging in China andere Wege als in Indien. Sie ging in Lateinamerika andere Wege als in Afrika.
Vor einigen Jahren hörte ich in den USA einen Vortrag von Michael Miovic, der mich tief berührte. Miovic ist Schüler des indischen Philosophen Sri Aurobindo und sprach über eine einfache, aber tiefe Einsicht Aurobindos, die dieser in seiner blumigen Sprache als „Sieben Juwel-Zentren der Mutter Erde“ bezeichnete. Damit meinte er, dass die verschiedenen Weltkulturen ganz unterschiedliche kulturelle Qualitäten entwickelt haben, die zu je eigenen Beiträgen für eine globale menschliche Zivilisation werden konnten.
China entwickelte in seiner 5000 Jahre alten Geschichte zwischen Taoismus und Konfuzianismus eine Kultur der subtilen Energien und der Harmonie zwischen „Himmel und Erde“, die in der chinesischen Medizin, in Qi Gong und Feng Shui einen Beitrag zu unserer globalen Kulturgeschichte geleistet hat. Der indische Subkontinent, Geburtsort der Veden und des Buddhismus, hat eine Kultur der Transzendenz und der meditativen Versenkung geschaffen, die in keinem anderen Erdteil eine so tiefe Vervollkommnung in der Volkskultur und in der spirituellen Philosophie gefunden hat. Europa, das Abendland, ist seit den Griechen eine Kultur, in der Individualismus, Demokratie und Menschenrechte eine besondere Ausprägung gefunden haben. Aurobindo spricht auch vom Mittleren Osten, der Wiege der Menschheit und dem Geburtsort der drei großen monotheistischen Religionen, vom vitalen Herzen Afrikas und vom pragmatischen Realismus Nordamerikas. Das Bild, das mir von diesem Vortrag über die Jahre blieb, ist eine Symphonie der Menschheit, in der die verschiedenen Kulturen ganz eigene Beiträge leisten. Es stellt sich die Frage: Wie plural verläuft die menschliche Entwicklung?

Indigenes Wissen

Aber es sind nicht nur die verschiedenen Hochkulturen, deren Stimmen wir für die Symphonie einer globalen Kultur brauchen. Der Reichtum menschlicher Erfahrung zeigt sich auch in den Erfahrungen der vielen indigenen Kulturen dieser Welt. Auch aus einer evolutionären Sicht brauchen wir diese kulturellen Stimmen vielleicht heute mehr denn je.
Die Geistesgeschichte gerade Europas und Amerikas kann als eine Entwicklungsgeschichte der Individuation und des Rationalismus gesehen werden. Heute sehen wir, dass wir diese Entwicklung vielleicht zu weit getrieben haben. Wir spüren den Hyperindividualismus unserer Zeit und die damit verbundene Entfremdung. Und in der instrumentellen Vernunft unseres Wirtschaftsystems wird jede Beziehung – sei es zu Menschen, zur Natur oder zu unserem Seelenleben – immer mehr zu einer Warenbeziehung, in der wir Dinge und Dienstleistungen austauschen.
Die indigenen Kulturen unserer Welt besitzen ein Verhältnis zur Erde und zur Natur, das uns in seinem Verständnis von der Lebendigkeit und Belebtheit aller Wesen noch vieles lehren kann. Wir haben in den letzten 5000 Jahren europäischer Kulturgeschichte viele Schichten unseres ursprünglichen Bewusstseins ausgrenzen müssen, um diese enorme Leistung der Individuation zu bewerkstelligen, die die Grundlage unserer modernen und postmodernen Kultur bildet. Individuelle Freiheit, Menschenrechte, Demokratie – all das wäre ohne Individuation nicht möglich gewesen. Und gleichzeitig erfahren wir gerade im Austausch mit indigenen Kulturen, dass wir für diese Errungenschaften auch einen Preis zahlen mussten und viel Wertvolles verloren haben. Im offenen Dialog gerade auch mit indigenen Kulturen könnten wir lernen, nach höheren Synthesen zu suchen. Nicht um Entwicklung zurückzudrehen, sondern um eine Integration des Verdrängten zu schaffen, eine neue Synthese. Eine wirklich globale Kultur entsteht erst, wenn es uns gelingt, die so unterschiedlichen menschlichen Kulturen und Perspektiven miteinander in einen offenen Dialog zu bringen – einen Dialog, in den jeder seine Stimme einbringen kann.

Die Kraft des direkten Gesprächs

Mit unserer Zeitschrift haben wir im September in dem uns möglichen Rahmen einen globalen Dialog initiiert: Monatelang suchten wir auf allen fünf Kontinenten nach Repräsentanten der unterschiedlichen Weltkulturen, Menschen, die einerseits tief in ihrer eigenen Kultur verankert sind, und andererseits auch ein Gespür dafür haben, dass wir heute als EINE Menschheit zusammenkommen. Mit internationalen Partnerorganisationen brachten wir am 12. und 13. September über 30 außergewöhnliche Menschen an zwei Tagen für einen virtuellen Dialog zusammen. Wir nannten die Veranstaltung „One World Rising – A Global Online Gathering“. Knapp 2000 Menschen, ebenfalls aus allen Kontinenten, hörten uns zu, beteiligten sich über Emailfragen und einem Online-Forum an diesem weltumspannenden Gespräch. Es war unerwartet für mich, welch tiefen Eindruck diese zwei Tage bei mir und vielen anderen Teilnehmern hinterlassen haben.
Die Kraft des direkten persönlichen Gesprächs zeigte uns auf eine ganz neue Weise, was es bedeutet, in einem gemeinsamen Weltinnenraum zu leben. Ich hatte beispielsweise noch nie mit jemandem gesprochen, der die Erde vom Weltall aus gesehen hat. Als wir gleich zu Beginn mit Edgar Mitchell sprachen, der mit Apollo 14 als einer der ersten Menschen den Mond betreten hat und die Erde vom Mond aus sehen konnte, war dies noch mal ein anderer Eindruck, als nur die bekannten Bilder von diesen Weltraumflügen zu sehen. Edgar Mitchell sprach davon, wie dieser Anblick der Erde sein Leben und seinen Blick auf uns Menschen in einer tiefen, spirituellen Weise verändert hat. Und in der Begegnung mit ihm hat sich etwas von dieser Erfahrung übertragen.
Manchmal ist es der abrupte Wechsel von einer Perspektive in eine andere, durch den der Reichtum menschlicher Erfahrung spürbar wird. Direkt nach dem Astronauten Edgar Mitchell sprachen wir mit Steven Wanta Jampijinpa, einer bekannten Stimme der australischen Aborigines. Das Gespräch mit ihm war wie ein offenes Tor in eine andere Welt. Ein Satz von ihm blieb mir in starker Erinnerung: „Bevor die Menschen begannen, das Land zu kultivieren, kultivierte das Land die Menschen.“ Die australischen Aborigenes, die seit 60.000 Jahren Australien besiedeln, haben seither als Jäger und Sammler auf diesem riesigen Kontinent gelebt. Es war dabei nie ihre Lebenserfahrung, „sich die Erde untertan zu machen“. Für uns Europäer ist es eine fast unzugängliche Erfahrung, dass es zuerst das Land war, das uns prägte, bevor wir begannen, mit Landwirtschaft und später Industrie das Land zu kultivieren. Auch wir brauchen heute dringend wieder eine Beziehung zur Erde.
Viele indigene Kosmologien stellen unser kartesianisch geprägtes Weltbild radikal infrage. Lassen wir uns auf ein Gespräch mit diesen anderen Weltwahrnehmungen ein? Oder wissen wir bereits, wer die überlegene Perspektive hat? Das Gespräch mit Adebayo Akomolafe, einem jungen Psychologen von der Covenant Universität in Nigeria musste einen irritieren. Da war ein junger, hochbegabter Psychologe am Telefon und beschrieb, wie er es als Befreiung von den Kategorien der westlich geprägten Psychologie empfand, als er sich als Akademiker und als Mensch auf die Heiltraditionen seines Yoruba-Volkes in West-Nigeria einließ. War dieser Wandel ein Rückschritt oder ein Fortschritt?

Wurzeln und Evolution

Wir neigen dazu, die Aufklärung unserer Moderne als etwas zu begreifen, durch das alle Kulturen der Welt in der gleichen Weise gehen müssen. Aber was ist an unserer europäischen Aufklärung wirklich universell – und was einfach nur europäisch? Der türkischstämmige, amerikanische Politologe Arif Dirlik brachte diese Frage in unser globales Gespräch ein. Dirlik sieht die Welt in einem Umbruch: Langsam beginnen wir zu verstehen, dass beispielsweise die indische oder die chinesische Moderne eigene, viel unabhängigere Formen entwickeln werden, als wir es bisher mit unserem europäischen Blick gedacht haben. Es gibt nicht die eine Moderne, es gibt verschiedene. Was das bedeutet, müssen wir noch lernen.
Der ehemalige Journalist der „Times of India“ und Kulturaktivist Rajan Venkatesh brachte noch einen weiteren, wesentlichen Aspekt ins Gespräch: „Wir können gar kein wirklich globales Bewusstsein entwickeln, wenn wir nicht in unserer regionalen Kultur tief verwurzelt sind.“ Ohne tiefe Wurzeln in unseren eigenen, unterschiedlichen Traditionen werden wir nicht die geistige Tragfähigkeit entwickeln können, um gemeinsam ein globales Bewusstsein zu entfalten.
Aber all das bedeutet nicht, dass wir uns von dem Gedanken lösen müssen, dass es eine Evolution des menschlichen Bewusstseins gibt. Die Kanadierin Gail Hochachka und der Nepalese Sushant Shrestha von „Integral without Borders“ betonen, dass wir die Komplexität der Weltkulturen erst in diesem Entwicklungszusammenhang verstehen können. Dieser Entwicklungszusammenhang erschließt sich aber nicht so sehr durch eine vorgegebene Theorie, so gut sie auch sein mag, sondern in dem direkten Dialog der Kulturen.
Das war auch die stärkste und vielleicht überraschendste Erkenntnis dieses zweitägigen „Online Worldwide Gathering“: Während dieser dialogischen virtuellen Reise durch Kulturen und Weltregionen entstand zwischen uns allen ein gemeinsam getragener Bewusstseinsraum. Jede Stimme war wie ein Tor zu den Erfahrungsräumen der Weltkulturen, ihren Ideen, ihren Mythen, ihren Perspektiven. Aber im direkten Gespräch konnten sich diese Perspektiven verbinden. Über das Internet entstand ein gemeinsamer Raum, der durch kein Buch und keinen Dokumentarfilm so entstehen könnte. Wenn es gelingt, vermehrt solche Kristallisationspunkte eines vieldimensionalen globalen Bewusstseins zu schaffen, dann entsteht ein integrales globales Bewusstsein.

Von der Theorie zum Dialog

Unser europäischer Beitrag für eine neue globale Welt besteht auch darin, die verschiedenen Weltkulturen in einen gemeinsamen Dialog zu bringen. Die Globalisierung startete in Europa, mit Handels- und Kriegsschiffen, zuerst aus Portugal und Spanien, später auch aus Holland und England. Heute wird unsere globale Wirtschaft und Finanzwirtschaft vor allem in New York, London aber auch in Frankfurt gesteuert. Wir haben mit der Erfahrung der Aufklärung, der Menschenrechte und der Demokratie die Vision einer Kultur der Beteiligung und Mitbestimmung entwickelt. Die Weltkriege, unsere totalitären Systeme und
der Kolonialismus haben in Teilen unserer Gesellschaft eine Kultur der Selbstkritik entwickelt, die es zum Beispiel in Deutschland ermöglicht hat, unseren eigenen kulturellen Schatten auf eine Weise zu thematisieren, wie es anderen Nationen bisher kaum gelungen ist.
Dieser Erfahrungsschatz ist eine gute Grundlage, um einen globalen Dialog anzustoßen.
Integrale Theorien, wie jene von Ken Wilber, sind auch erste große Schritte, um die Komplexität unserer entstehenden Weltkultur wirklich wahrzunehmen. In einem Vortrag auf der Europäischen Integralen Konferenz in Budapest vor zwei Jahren sprach ich davon, dass eine reife integrale Perspektive immer weniger nur die Form einer „Theorie von allem“ annimmt, sondern vielmehr die Form eines Dialogs. Theorien kann ich „besitzen“, an einem Dialog kann ich mich nur beteiligen. Er lebt davon, dass es den „Anderen“ gibt. Und ein Dialog bleibt immer ein lebendiger und nie abgeschlossener Prozess.
Der evolutionäre Denker Otto Scharmer spricht davon, dass wir das Neue in Form von Prototypen in die Welt bringen müssen. Vielleicht sind globale Dialogforen wie unser Online-Event „One World Rising“ einer von vielen Prototypen einer globalen Dialogkultur. Diese gemeinsamen Gesprächsräume für die Vielzahl der menschlichen Erfahrungen können die eigentlichen Biotope eines neuen integralen und globalen Bewusstseins werden. Lasst sie uns bewusst gestalten.