Thomas Steininger im Gespräch mit Harald Walach

 

THOMAS STEININGER: In Ihrem Buch Spiritualität – Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen vertreten Sie die Ansicht, dass die Aufklärung nicht abgeschlossen ist und dass wir heute auch die Spiritualität in das aufgeklärte Denken miteinbeziehen sollten. Warum ist das Ihrer Meinung nach der nächste Schritt der Aufklärung?

HW: Ich glaube, es ist gefährlich, wenn wir denken, dass die Aufklärung beendet sei. Denn immer wenn wir das tun, ist die Gefahr sehr groß, dass wir uns in eine neue Form des Dogmatismus oder in eine verkürzte Rationalität verrennen. Ich denke, das können wir heutzutage in vielen Bereichen sehen. Das zeigt sich in der politischen und ökonomischen Situation, und wir sehen es auch bei unserem Umgang mit unseren ökologischen Problemen. Die landläufige Meinung ist folgende: Wenn wir klug denken und vernünftig forschen, werden wir diese Probleme lösen können. Aber ich glaube, das ist ein Fehlschluss. Deswegen bin ich der Meinung, wir müssen uns dem Thema der Spiritualität widmen, und zwar nicht in einer Form, die zu einem bestimmten Glaubensbekenntnis hin tendiert, sondern als eine neue Form der Erfahrung, die die wissenschaftliche Erfahrung, die wir gut entwickelt haben, ergänzt.

TS: Wie Sie in Ihrem Buch schreiben, geht es Ihnen dabei vor allem auch um die Welt: um die zentrale Einheit von Geist/Seele auf der einen und Materie auf der anderen Seite. Sie vertreten die Ansicht, dass diese Einheit nur erfahrbar ist, wenn wir uns auf Innenräume einlassen, die im Grunde spirituell sind.

HW: Richtig. Das ist eine wichtige Voraussetzung, von der ich ausgehe.

TS: Wenn das der Fall ist, ist eine undogmatische Spiritualität eigentlich nur ein Ernstnehmen der Einheit der Welt als reale Wahrnehmung. Es gibt ja auch so etwas wie eine spirituelle Wissenschaft: In den verschiedensten kulturellen Traditionen der Spiritualität gab und gibt es Techniken der Spiritualität wie Gebet und Meditation. Und bei aller kulturellen Unterschiedlichkeit scheint eine Wahrnehmung von Nicht-Getrenntheit universell zu sein. Und genau hier wird Spiritualität wichtig für die Herausforderungen, mit denen wir heute in der Welt konfrontiert sind.

HW: Ja. Genauso würde ich das sehen. Das würde bedeuten, dass wir einen komplementären Zugang zur Welt kultivieren. Im Moment ist der Innenzugang zur Welt – wie wir ihn in der antiken Philosophie und auch in anderen kulturellen Traditionen wie dem Hinduismus oder Buddhismus sehen – verdrängt worden durch einen sehr effizienten Außenzugang zur Welt, aus dem wir unsere heutigen Naturwissenschaften schöpfen. Und das war eine sehr hilfreiche und kulturell wichtige Entwicklung. Aber wenn wir uns nur auf diesen äußeren Zugang zur Welt stützen – auf Beobachtung und deren Verfeinerungen durch die Methodologie der Wissenschaft –, dann verlieren wir den Innenzugang zur Welt. Dann brechen wir letztendlich auch die Welt auseinander, und dadurch wird die ursprüngliche Ganzheit, in der wir stehen und in der wir leben, fragmentiert. Aus diesem Grund glaube ich, wir müssen diesen ursprünglichen Innenzugang der Welt, der immer teil der Erkenntnis ist, wieder in das öffentliche Bewusstsein, in die Diskussion und damit auch in die methodisch wissenschaftliche Reflexion zurückholen.

TS: Interessanterweise widmen sich Wissenschaften wie die Neurobiologie seit jüngstem auch mit einer gewissen Intensität der Erforschung von Meditation und ähnlichen spirituellen Techniken und sind hier auch zu spannenden Ergebnissen gekommen. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, sagen Sie, dass die Erfahrung der Einheit und Nicht-Getrenntheit von der Welt eine Wertigkeit an sich hat. Das ist natürlich etwas, das naturwissenschaftlich nicht feststellbar ist. Es ist eine Frage, der wir uns als geistiges Wesen stellen müssen.

HW: Meiner Ansicht nach müssen wir auch diese Trennung der verschiedenen Formen von Wissenschaft zumindest partiell überwinden. Sonst sprechen wir auf der einen Seite von Werten, von inneren Zuständen, von Geist – das sind dann die Bereiche der Literaturwissenschaft, Linguistik, Kulturwissenschaft oder Philosophie –, die aber keinen Einfluss auf die Erkenntnisse haben, die uns in der Naturwissenschaft zugänglich sind. Naturwissenschaftler sagen oft: Das geht uns nichts an, das ist eine andere Form von Wissenschaft. Die Trennung der Wissenschaften, die zum Anfang dieses Jahrhunderts entstanden ist, muss mindestens im Ansatz der Methode wieder überwunden werden, damit wir einen rationalen Zugang zu Werten gewinnen. Dazu müssen wir einen Diskurs führen, der jenseits der konventionellen Wertedebatte stattfindet. Und das setzt wiederum voraus, dass genügend Menschen, vor allem aber solche, die in wichtigen Führungspositionen sind, diesen Innenzugang zur Wirklichkeit kultivieren.

TS: Wir brauchen also eine notwendige Erweiterung unseres Weltverständnisses, wenn wir mit der Welt besser umgehen wollen?

HW: Ja, so würde ich es formulieren. Und ich glaube, der Schlüssel dazu ist der Begriff Erfahrung. Dieser Begriff wird momentan ziemlich unreflektiert benutzt: Ich sehe in ein Mikroskop und sehe etwas, und meine Methodologie sagt mir, dass diese wissenschaftliche Erfahrung in ein paar Schritten in Zahlen umgewandelt werden kann, womit ich dann ein Wissen über die Welt gewinne. Das stimmt einerseits, aber ich vernachlässige damit den erweiterten Begriff der Erfahrung, der auch die Innenerfahrung berücksichtigen muss. Diese Innenerfahrung kann uns durch eine methodisch geschulte Aufmerksamkeit und Sammlung zugänglich werden. Dadurch können wir uns von innen her, aus der inneren Erfahrung, der Welt nähern und etwas Gültiges über ihre Beschaffenheit erkennen und formulieren.

Dazu brauchen wir aber eine Kultur des Geistes, durch die systematische Erfahrung möglich wird, die dann auch diskursfähig ist, über die wir reden können. Und in der man möglicherweise sogar Methoden findet, um aus diesen vielen individuellen Erfahrungen, die ja zunächst subjektiv sind, etwas herausdestillieren zu können, das konsensfähig ist. Ob das geht oder nicht wissen wir nicht, denn wir haben es noch gar nicht versucht.

TS: Sie haben hier zwei interessante Begriffe hereingebracht. Sie sprachen von diskursfähig und konsensfähig. Diskurs würde bedeuten, dass wir ein allgemeines Gespräch darüber führen, dass in der spirituellen Praxis etwas Reales erfahrbar ist. Es ist nicht nur psychologischer Humbug ist, sondern etwas, das Relevanz und Bedeutung hat. Und Konsens deutet daraufhin, dass die Erfahrung nicht nur willkürlich ist, sondern dass man darin auch eine innere Objektivität erfahren kann. Ich möchte hier auch etwas persönlicher fragen: Sie sind einerseits aktiver Wissenschaftler an der Universität, andererseits praktizieren sie jahrzehntelang Meditation. Würden Sie sagen, dass ihre Erfahrung der Innenseite des Lebens auf eine vergleichbare Art und Weise kommunizierbar ist, sodass man darüber wirklich ins Gespräch kommen kann?

HW: Diese Erfahrung ist mit Sicherheit auf die eine oder andere Art und Weise kommunizierbar. Das Problem ist, glaube ich, dass wir keine Kultur dieses Gesprächs haben. In der Geschichte finden wir die Schriften der Mystiker, Dichter wie Rilke oder einige Philosophen. Aber wir haben diese Kultur nicht zu einer wissenschaftlichen Kultur gemacht. Wenn wir diese inneren Erfahrungen nun selbstverständlicher machen können, dann finden wir vielleicht auch neue und angemessenere Formen, um darüber in den Diskurs zu treten. Aber ich glaube, wir haben das als Kultur noch gar nicht versucht – wenigstens nicht in der westlichen Kultur. Die Mystik als eine Strömung ist eigentlich immer eine Strömung der Minderheiten gewesen.

TS: Seit einiger Zeit gibt eine Art spirituelle Renaissance. Sie hat die verschiedensten Blüten, von denen einige auch ins Esoterische gehen oder eigenartige Formen annehmen. Aber man kann eindeutig sagen, dass das säkulare Zeitalter, so wie es sich in den letzten 200 Jahren gezeigt hat, zumindest in einer Krise ist. Sehen Sie heute Ansätze zu dem kulturellen Umbruch, den Sie für notwendig erachten?

HW: Ich würde Ihrer Einschätzung zustimmen. Eine Doktorandin von mir, Liane Hoffmann, hat vor einigen Jahren eine sorgfältige Befragung von Therapeuten durchgeführt. Wir stellten dabei folgende Frage: Spielt Spiritualität für Sie eine Rolle? Das war eine repräsentative Befragung, und in den Daten, die kürzlich publiziert wurden, zeigte sich, dass ungefähr zwei Drittel der Psychotherapeuten von sich sagen, sie hätten schon einmal eine spirituelle Erfahrung gemacht. Sie haben diese Erfahrung nicht genauer definiert, aber dieses Ergebnis finde ich erstaunlich. Psychologen fühlen sich in der Regel der traditionellen Religion nicht so verbunden und sie sind auch relativ kritisch ausgebildet. Aber diese Menschen haben offensichtlich durchaus das Bedürfnis, sich mit spirituellen Themen auseinanderzusetzen. Ich denke, sie sind ein guter Seismograf für das, was in der Gesellschaft passiert, und von daher würde ich Ihrer Aussage zustimmen. Ich glaube, es gibt eine Re-Spiritualisierung der Menschen, aber eben nicht auf einem dogmatisch traditionellen Hintergrund, sondern wohl eher in einer suchenden Bewegung.

 

Bio:

Harald Walach ist klinischer Psychologe, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker und Professor für Forschungsmethodik komplementärer Medizin und Heilkunde an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter Spiritualität – Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen.

 

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Radio evolve – Gespräch mit Harald Walach: http://bit.ly/2rLlD9W