Brauchen wir Helden?  Ein deutscher Philosoph begibt sich auf die Spuren eines der schillerndsten und umstrittensten Worte der deutschen Sprache und stellt die Frage, ob wir dieses verpönte Wort vielleicht wieder brauchen.

Anfang Mai besuchte ich die Jahrestagung des Integralen Forums in Bremen, auf der auch Terri Patten, ein enger Mitarbeiter des integralen Philosophen Ken Wilber, einen Vortrag hielt, der alle Anwesenden sehr berührte. Terri Patten sprach in seiner Rede davon, wie wir, in unserer Generation, unsere eigene westliche Tradition oft nur negativ und kritisch sehen. So wichtig Selbstkritik ist, wir dürfen in ihr aber nicht steckenbleiben. Es ist Zeit, auch wieder die positiven Seiten unserer eigenen Kultur mit ins Bild zu holen, um auch dafür Verantwortung zu übernehmen.

Im Besonderen ging Terri auch auf die Deutschen ein: Gerade, weil die deutsche Geschichte neben ihren unleugbaren Verdiensten auch eine solch tragische und dunkle Seite hat, haben wir Deutsche eine besondere geschichtliche Aufgabe, die keine andere Nation auf dieser Weise erfüllen kann. – Als Terri das sagte, begann es im Saal bereits ziemlich unruhig zu werden. – Wenn wir, als Deutsche, in der Lage seien, fuhr Terri fort, uns unserem kulturellen Schatten zu stellen, könnten wir damit eine moralische Führungsrolle in der Welt übernehmen. Die Welt brauche eine Kulturnation, die in der Lage sei, aus ihrem Scheitern zu einer neuen moralischen Reife zu finden. Und dann sagte Terri etwas, was vielen im Saal den Atem stocken ließ – wir Deutsche müssten auf eine neue Art den Mut haben, Helden zu sein. Er, als Amerikaner mit seinem jüdischen Vater, könne uns das sagen – die Welt brauche uns. Die Reaktionen auf Terri Pattens Vortrag waren Betroffenheit und Widerspruch. Noch am nächsten Tag diskutierte das ganze Auditorium seine Thesen. Sollten wir uns schon wieder mit Auschwitz auseinandersetzen? Und von deutschen Helden – so einige Wortmeldungen – haben wir wirklich genug.

Heldentum ist ja wirklich ein spezielles Wort, besonders in der deutschen Sprache. Zwar heißt eine unserer bekanntesten (und besten) Pop-Rock-Gruppen „Wir sind Helden“. Aber wir alle wissen, wie das gemeint ist. Der Charme ihres Namens beruht gerade auf dem Spiel mit dem kulturell Verpönten. Und als wollten sie es nochmals klarstellen, wie sie es mit ihrem Namen meinen, singen sie in ihrem Lied „Denkmal“: „Hol den Vorschlaghammer, sie haben uns ein Denkmal gebaut.“

Der Reiz des Wortes „Helden“ kommt natürlich auch daher, dass wir alle wissen: Dieses Wort war früher einmal ein wichtiges Wort. Unsere deutsche Literatur ist voll von Helden, von der Nibelungensage über Schiller bis zu Karl May – nichts als Helden, und die deutsche klassische Musik von Beethoven bis Richard Wagner war, vereinfacht gesagt, Heldenmusik. Wir haben die Helden einmal wirklich geliebt.

Und manchmal lieben wir sie noch immer. In keinem Land wurde Gorbatschow mehr gefeiert als in Deutschland, und das nicht nur wegen des Mauerfalls. Wir liebten seinen Mut, ein ganzes Gesellschaftssystem in Bewegung zu bringen. Und Barack Obama wurde, noch bevor man ihn zum Präsidenten der Vereinigten Staaten wählte, vor der Siegessäule in Berlin von Hunderttausenden begeisterter Fans bejubelt, und die Deutschen jubelten nicht nur, weil Obama der Anti-Bush ist. Wir sind von seiner positiven und zukunftsgestaltenden Kraft tief berührt und fasziniert. Gleichzeitig würden wir nie einen deutschen Obama zum Bundeskanzler wählen. Es wäre zu gefährlich.

Unsere Heldenphobie hat natürlich, wie so vieles, mit unserer Geschichte zu tun. Denn 1933 waren Helden bei uns hoch im Kurs. Und damals wollten wir Deutschen auch Verantwortung für die Geschichte übernehmen. Die menschenverachtende Vision, die hinter den damaligen Ereignissen stand, verschlägt uns, berechtigterweise, auch heute noch den Atem. So ist es auch kein Wunder, dass gleich nach 1945 niemand etwas mit dem zu tun haben wollte, was unter den Nazis geschah. Wir entwickelten in den Nachkriegsjahren eine ganze Kultur des Nichts-damit-zu-tun-Habens. Man lernt viel, wenn man sich die deutschen und österreichischen Filme aus der Nachkriegszeit anschaut. Damals boomte in den Kinos der deutsche Heimatfilm, in dem zünftige Förster und fesche Sennerinnen in abgelegenen Alpentälern, unberührt von den Abgründen der Weltgeschichte ihre Dramen und Freuden erlebten. Und wenn man auch in der ganzen Welt gerne Urlaub in den Bergen macht, man kann durchaus die Frage stellten, warum der Bergurlaub bei uns so besonders viele Freunde hat. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass die Berge sich, wie kaum ein anderer Platz, dazu eignen, frei von Geschichte zu sein. Unsere Nachkriegskultur war eine Idyllenkultur, die vor allem eines wollte, vergessen.

Neben den Heimatfilmen gab es aber ab den 50ern und 60ern im neu entstehenden Fernsehen noch ein anderes, wirklich erfolgreiches Genre – den deutsche Krimi. Es gibt keine erfolgreichere deutsche Fernsehproduktion als den „Tatort“. Nicht nur, dass für Millionen Deutsche der Tatort über Jahrzehnte, wie früher der Kirchgang, fast zu einem wöchentlichen Ritual geworden ist. Die Tatort-Serie wird seit Jahrzehnten in vielen Sprachen von Frankreich bis in die Mongolei weltweit gesehen. Aber Krimis wie „Tatort“ oder „Derrick“ unterscheiden sich wesentlich von amerikanischen Fernsehserien wie „Die Straßen von San Francisco“ oder „Miami Vice“. Ihre Helden sind keine Helden. Sie sind am Ende auch keine strahlenden Sieger. Derrick oder „Der Alte“ sind einsame Moralisten, die mit dem Bösen in der menschlichen Natur ringen. Und wenn sie das Böse am Ende besiegen, ist es mehr ein Blick in den Abgrund als ein Triumph des Guten.

Für Jahrzehnte durfte es im Fernsehen und Kino nur wirkliche Helden geben, wenn sie keine Deutschen waren. Und es hatte vielleicht auch seine Berechtigung, dass wir so lange keine „deutschen Helden“ ertragen konnten. Es war einfach zu viel geschehen.

Umso spannender ist es zu beobachten, dass sich dieser Schatten seit einigen Jahren zu heben beginnt. Seit Kurzem sehen wir im Kino Deutsche, die auch Helden sind, andere Helden. In Kinofilmen, die sowohl aus Amerika als auch aus Deutschland kommen, sehen wir Männer und Frauen, die als Widerstandskämpfer gegen Hitler ihr Leben riskierten. Mit Graf Stauffenberg zeigt Hollywood im Film „Walküre“ zum ersten Mal überhaupt, dass es so etwas wie einen ernsthaften deutschen Widerstand gegen die Nazis gab. Und nicht nur Walküre war in den deutschen Kinos sehr erfolgreich, auch die deutsche Filmproduktion „Sophie Scholl – die letzten Tage“ fand viel Beachtung. Und es kommen auch andere Helden auf die Leinwand. Der Film „Martin Luther“ wurde zu einer großen deutschen Kinoproduktion. Und Margarethe von Trotta bringt noch in diesem Jahr die Lebensgeschichte von Hildegard von Bingen in die Kinos.

Ist es Zeit für neue deutsche Helden? Terri Patten hat bei seiner Rede in Bremen einen sehr wesentlichen Punkt berührt. Er sagte, dass wir Deutschen etwas zu geben hätten, was die Welt brauche und was sonst niemand geben könne. Ich denke, er hat Recht.

Denn jede Kultur, jede Nation hat ihren eigenen Beitrag, den nur sie für unsere gemeinsame globale Zukunft leisten kann. Wir Deutschen werden nie den ungebrochenen Pioniergeist der Amerikaner haben (wohl auch nicht die unnachahmliche amerikanische Coolness), wir werden auch nie das unermessliche spirituelle Erbe Indiens besitzen. Aber wir haben unser idealistisches Erbe und wir haben die Lehren unseres Scheiterns. Und so seltsam das klingt – das ist viel.