Katharina Ceming und Thomas Steininger im Gespräch über echtes Denken, die Entwicklung der Intuition und eine reife Mündigkeit

 

THOMAS STEININGER: Als Theologin und Philosophin gehörst du zu einer jungen Generation von Denkern und Denkerinnen, die die Konturen einer moderne Spiritualität erforschen. Ich möchte zu Anfang ganz direkt fragen: Was bedeutet für dich eine modernen Spiritualität?

KATHARINA CEMING: Ich denke, moderne Spiritualität heißt, dass sie tatsächlich auch die Rechnung trägt, was moderne Entwicklungen, sowohl im Bereich der Geisteswissenschaften als auch der Naturwissenschaften an neuen Weltsichten hervorgebracht haben. Die traditionellen spirituellen Systeme sind in einer vormodernen Zeit entstanden. Sie haben auf der einen Seite einen reichen Erfahrungsschatz von Methodiken, Übungen und Transformationstechniken entwickelt. Aber viele metaphysische Grundannahmen werden heute infrage gestellt. Eine Spiritualität, die auch im 21. Jahrhundert tragen soll, muss auf neue Weltsichten und Konzepte eingehen können. Eine moderne Spiritualität sollte also auch immer wieder ihre eigenen Methoden und Grundlagen reflektieren, damit sie zukunftsfähig sein kann.

TS: Heute können wir nicht mehr davon sprechen, dass wir wirklich in einer säkularen Zeit leben. Zumindest seit dreißig, vierzig Jahren gibt es eine Renaissance der Spiritualität – nicht unbedingt eine Renaissance der traditionellen Spiritualität, sondern der verschiedensten Formen neuer Spiritualität, die sich oft als „spirituell aber nicht religiös“ bezeichnen. Sind das Anzeichen dieser neuen Spiritualität?

KC: Zum Teil, denn diese neuen Formen von Spiritualität gründen oft sehr stark in den klassischen Kontexten, aus denen sie stammen. Entweder sind es buddhistische Wege oder Formen aus der hinduistischen Tradition, dem Sufismus, der Kabbala oder der christlichen Mystik, die von den Praktizierenden für ihr eigenes Leben angepasst werden.

TS: Viele dieser neuen Formen nehmen auch Elemente der modernen Psychologie und Psychotherapie auf. Spiritualität wird hier in gewissem Sinne als Weiterentwicklung der Psychotherapie gesehen – wie in der transpersonalen Psychologie. Wenn spirituelle Arbeit im Kontext von Psychologie betrachtet wird, geht es oft um persönliche psychologische Verbesserungen. Ego-Transzendenz ist von Natur aus mehr, und hier zeigt sich eine Spannung zwischen authentischen traditionellen spirituellen Ausrichtungen und vielen postmodernen Schulen, die diese psychologische Orientierung betonen. Siehst du darin eine Problematik oder ist das ein wichtiger Fortschritt in der modernen Spiritualität?

KC: Wenn beides in einer guten Weise verbunden werden kann, ist das ein ungemeiner Gewinn. Die psychologische Ebene richtet sich tendenziell eher auf den Bereich des Es oder des Schattens, die wir in der Meditation nicht unbedingt wahrnehmen. Wenn wir psychologische und spirituelle Praxis miteinander verbinden, kann dies eine gegenseitige Bereicherung sein.

TS: Die psychologischen Erkenntnisse des letzten Jahrhunderts, angefangen bei Freud und Jung, sind ganz wichtige Errungenschaften. Aber wir sehen heute durchaus auch die Schattenseiten, was man vielleicht mit einer „Hyperpersonalisierung“ bezeichnen kann.

Ich denke, du sprichst in deinem Buch Spiritualität des 21. Jahrhunderts einen Aspekt dieser Entwicklung an. Ein Kapitel heißt: „Ein bisschen mehr Gefühle bitte!“ Und darin sprichst du dich für eine differenziertere Betrachtung von Gefühlen und Gedanken im modernen spirituellen Leben aus.

KC: Ja, in den klassischen spirituellen Traditionen wird zu Recht darauf verwiesen, dass die „Ebene“ der Transzendenz, des Non-Dualen, des Göttlichen durch das diskursive Denken nicht erfahren werden kann. Heute führt das oft zu einer vorschnellen Annahme: Durch das Denken geht es nicht, also ist das Gefühl der Weg. Das Problem ist aber, dass Gefühle sich in der gleichen Kategorie befinden wie das Denken – sie sind dual strukturiert. Es gibt immer ein Subjekt, das empfindet und es gibt etwas, worauf dieses Empfinden gerichtet ist.

Ich vertrete die These, dass wir nicht zu viel denken, sondern viel zu wenig denken. Die Art des Denkens, die wir momentan nutzen, hat mit wirklicher Rationalität ziemlich wenig zu tun – oder mit anderen Worten: Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein vernünftiger Mensch es wirklich rational empfindet, wenn eine Gesellschaft oder eine Zivilisation sich den Ast absägt, auf dem sie sitzt.

Darum würde ich sagen, dass wir ein echtes tiefes Denken entwickeln müssen, das natürlich so etwas wie Intuition und Gefühl mit einschließt. Im Westen haben wir das Denken oft ungemein verkürzt und als eine Zweckrationalität benutzt. Heidegger hat es das rechnende Denken genannt. Darin achte ich nur auf eine kurze Gewinnmaximierung, aber bedenke die Folgen nicht mit. Aber das ist nicht wirklich rational, und es ist noch viel weniger vernünftig.

Wenn wir die großen philosophisch-spirituellen Systeme im Abendland und im Osten anschauen, dann gibt es darin ist immer diesen Aspekt der Vernunft. Ich denke, diese Ebene haben wir kaum kultiviert. Darum spreche ich mich dafür aus, dass wir das Denken nicht zu früh über Bord werfen, es ist nämlich ein ganz wichtiges Instrument, auch um unsere Weltwirklichkeit zu strukturieren und zu erkennen. In dieser Form des Denkens hat auch das echte Gefühl, also die tiefe Emotionalität, ihre absolute Berechtigung, die aber dann keine Gefühlsduselei ist, die leider ganz oft mit einer tiefen Emotionalität verwechselt wird.

TS: Ja, in der heutigen Spiritualität wird oft über den Gegensatz zwischen Kopf und Herz gesprochen. Aber der eigentliche Gegensatz ist ein anderer: Es ist nicht Denken vs. Fühlen, es ist Dualität vs. Nicht-Dualität. Eine duale Emotionalität empfindet weiterhin in einem getrennten Ich-Bezug.

KC: Wir können ungemein viel Gefühl entwickeln, das uns aber auch leider völlig in die Irre führen kann. Und das wird oft in spirituellen Kontexten nicht thematisiert. Ich kann eine starke Emotionalität entwickeln, die aber auch destruktiv sein kann. Ich kann Liebe empfinden, die aber nicht notwendigerweise universell sein muss. In der Spiritualität gehen wir heute oft davon aus, dass Liebe immer allumfassend ist – das ist aber meist nicht so. Die Geschichte der Spiritualität ist voll von Beispielen, wo diese Liebe nur auf die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft beschränkt wurde.

TS: Ken Wilber, der auch in deinem Denken eine große Rolle spielt, macht die sehr treffende Unterscheidung zwischen prärational, rational und transrational. Der große Unterschied zwischen prärational und transrational ist, dass die transrationale Ebene das Rationale einschließt und übersteigt. Das heißt, dass sie das Denken miteinschließt. Sprichst du von dieser transrationalen Ebene, wenn du sagst, dass es ein Denken ist, das eine intuitive Qualität mit einschließt, über das rein rationale Denken hinausgeht?

KC: Ja, dieses transrationale Denken müssen wir kultivieren. Und wir müssen auch das Intuitive entwickeln. Interessant hierbei ist, dass Menschen, die darin eine gewisse Meisterschaft erreicht haben, sagen, dass sich die Intuition aus viel Erfahrung und Wissen speist. Irgendwann kippt sozusagen der Schalter, so dass ich nicht mehr darüber nachdenken muss, sondern tatsächlich das intuitive Gefühl habe, was richtig ist. Das Grundproblem bei der Intuition, wenn sie nicht trainiert wird, ist aber genau die Verwechselung von Prä und Trans, wie sie Wilber anspricht. Jeder hat eine Intuition. Aber wir wissen wahrscheinlich alle, dass wir mit unserer Intuition auch gnadenlos daneben liegen können.

TS: Ja, ein guter Taschendieb lebt von seiner Intuition, und die ist auch richtig, aber sie ist etwas ganz anderes als die Intuition eines Buddhas. Allein auf Intuition zu verweisen, sagt überhaupt nichts darüber, um welche Intuition es sich handelt. Intuition braucht einen Kontext und um einen Kontext zu erkennen, brauchen wir auch das Denken.

KC: Genau. Hier kommen Ethik, moralische Entwicklungslinien und Werteentwicklung hinzu. Wie wir von Entwicklungspsychologen wie Piaget und Kohlberg wissen, ist Kognition eine dieser Linien. Wenn wir uns auf der kognitiven Ebene nicht weiterentwickeln, wird die Entwicklung in den anderen Linien schwierig. Aber allein die kognitive Linie führt nicht dazu, dass wir moralischer werden. Wie bei allen Linien gibt es auch in der Entwicklungslinie der Intuition verschiedene Ebenen. Der Taschendieb mag eine tiefe Intuition haben. Er ist zwar intuitiv ein guter Betrüger – aber ist es das, was die Welt wirklich braucht?

TS: Der Taschendieb ist einfach nur ein illustratives Beispiel. Es kann auch die Intuition in einem beschränkten ethnozentrischen Kontext sein. Einfach ein intuitiv guter Familienvater zu sein, ist wertvoll. Aber es ist eine andere Intuition als die, von der du gesprochen hast.

KC: Ja, wir müssen auch die Intuition zu höheren Ebenen entwickeln. Das Verführerische bei Intuition und Gefühl ist, dass wir meinen, wir hätten immer einen direkten Zugang dazu und müssten nicht daran arbeiten. Das Gefühl überschwemmt uns, es beglückt uns oder was auch immer. Aber es ist eben auch etwas, woran wir, genau wie an unserem Denken oder an unserer Vernunft, auch weiter arbeiten müssen, damit es sich wirklich entwickelt und wir uns als Menschen entwickeln.

TS: Selbst Menschen mit einer tiefen Erleuchtungserfahrung leben deswegen nicht notwendig in einem Kontext, der ihr ethnozentrisches Weltbild durchbricht.

KC: Da sind wir genau bei dem Punkt, den wir auch eingangs angesprochen haben: Was bedeutet moderne Spiritualität? Dazu gehört auch, dass wir Aspekte wie Denken, Gefühl und Intuition in diesen neuen Bewusstseinsebenen in anderer Weise interpretieren und erfahren. Shankara zum Beispiel war einer der ganz großen Erleuchteten des Advaita Vedanta. Aber für ihn war klar: Frauen und Kastenlose können niemals Mitglieder seines Ordens sein, weil sie so viel schlechtes Karma haben, dass sie in diesem Leben nie Erleuchtung erlangen können. Er war geprägt von den Konzepten und Vorstellungen im Kontext seiner Zeit.

TS: Hier stellt sich die Frage: Wie erschließen wir uns einen größeren Kontext, der beispielsweise unsere ganze Welt umfasst? Primär oder zumindest zu einem Gutteil durch das Denken. Um tiefe, auch mystische Erfahrungen in den Kontext unseres Lebens setzen zu können, braucht es einen Prozess des Verstehens, durch den wir erkennen, in welchem Kontext diese Erfahrung bedeutsam sein kann. Und wir müssen uns denkend der Welt nähern, um in einem großen Weltkontext verstehen zu wollen, was beispielsweise Erleuchtung bedeutet.

Denn in dem Augenblick, wo ich ein Weltbürger sein möchte, muss ich auch ein entsprechendes Weltverständnis entwickeln. Eine der großen Herausforderungen unserer Zeit besteht darin, wie Non-Dualität Ausdruck in einem weltzentrischen Kontext findet. Und hierbei stehen wir vor folgenden Fragen: Wie kann ich die Welt als Ganzes verstehen, ohne in ein rein instrumentelles Denken zu verfallen? Wie kann ich spirituell sein und trotzdem einen großen Kontext halten, der die Welt umschließt und die Welt auch in ihrem Werden umfasst? Denn eine Dimension, die sich uns heute erschließt und die wir auch als selbstverständlich annehmen – die aber gar nicht so selbstverständlich ist – ist die Tatsache, dass wir die erste Generation sind, die diesen ganzen Werdensprozess des Universums in den Blick bekommen hat. Und hier müssen wir nun auch fragen: Was bedeutet Non-Dualität in diesem Kontext?

Vielleicht liegt die Aufgabe einer modernen Spiritualität primär darin, dieses denkende Sich-Annähern an die Welt und die Evolution des Universums mit einer tiefen nondualen Erfahrung zusammenzubringen. So vermeiden wir eine Regression in alte Formen von Spiritualität. Wir vermeiden aber auch einen Umgang mit der Welt, der die eigentliche Tiefe der Wirklichkeit des Universums und des Bewusstseins außer Acht lässt.

KC: Wenn wir die Rechnung tragen, was uns aktuell als Welt umgibt und diese Erfahrung der Tiefe und echten Verbundenheit kultivieren, sehen wir die Konturen einer modernen Spiritualität. Damit unterscheidet sie sich von Spiritualitätsformen vergangener Zeiten. Spiritualität ist nicht per Definitionen etwas, das weltzentrisch agieren muss. Oft nehmen wir das an und das führt oft zu Irritationen. Aber die Interpretationen des gesamten Erlebens und Erfahrens auch der spirituellen Dimension geschieht eben immer in dem Kontext, der mich aktuell prägt. Das heißt, dass ich mich auf allen Ebenen weiter entwickeln muss, um dem Ganzen Rechnung tragen zu können.

Unsere Welt wird immer komplexer und wir können versuchen, diese Komplexität zu ignorieren, aber irgendwann holt sie uns ein. Denn egal, wie wir uns dazu verhalten – die Entwicklung wird stattfinden. Ob sie völlig zielgerichtet laufen wird oder ob die Evolution immer pfeilgrade nach oben geht oder ob es darin auch Knicke und Rückschläge gibt, ist eine andere Frage. Aber wir können uns der Entwicklung auf Dauer nicht entziehen. Wir müssen uns mit dieser Welt und dieser Komplexität von Wirklichkeit, in der wir heute leben, auseinandersetzen.

Wenn wir die letzten hundert Jahre anschauen, haben wir menschheitsgeschichtlich einen Quantensprung getan. Es sind so viele Ebenen von Weltwirklichkeit und Welterkenntnis hinzugekommen. Über Jahrhunderte, fast Jahrtausende, haben Religionen relativ klare Vorgaben formuliert, wie Menschen sich verhalten sollten. Das passt heute oft nicht mehr. Wir müssen meist schnell selbst agieren und entscheiden, was zu tun ist, weil es diese eine absolut verbindliche Wahrheitslinie nicht mehr gibt. Es gibt so viele Facetten der Wirklichkeit und wir müssen oft situativ entscheiden, was zu tun ist. Aber wir können nur einigermaßen gut entscheiden, wenn wir möglichst viel in unser Bewusstsein integrieren.

TS: Ja, wir können auf diese Welt heute eigentlich nur aus einer reifen Mündigkeit antworten. Traditionelle spirituelle Systeme waren in einem vormodernen nicht-mündigen gesellschaftlichen Ganzen eingebettet. Aber wenn wir die Aufklärung ernst nehmen, müssen wir auch unser Erwachsensein ernst nehmen, also auch unsere individuelle Willensfreiheit und unsere individuelle Verantwortung. Das ist eine neue Spiritualität, weil sie wirklich aus unserer eigenen Einsicht geboren wird und nicht aus dem Einfügen in einen dogmatischen Rahmen.

KC: Ganz richtig, denn Freiheit heißt eben auch Verantwortung.

 

 

Wir müssen ein echtes tiefes Denken entwickeln, das Intuition und Gefühl mit einschließt.

Katharina Ceming

Intuition braucht einen Kontext und um einen Kontext zu erkennen, brauchen wir auch das Denken.

Thomas Steininger

Gefühle sind in der gleichen Kategorie wie Denken – sie sind dual strukturiert.

Katharina Ceming

Wir können auf diese Welt heute eigentlich nur aus einer reifen Mündigkeit antworten.

Thomas Steininger

 

Bio:

Dr. Dr. Katharina Ceming ist außerplanmäßige Professorin an der Universität Augsburg sowie freiberufliche Seminarleiterin und Publizistin. Katharina Ceming beschäftigt sich seit vielen Jahren neben den religiösen, philosophischen, kulturellen und sozialen Aspekten der Weltreligionen besonders mit Mystik und Spiritualität und ist Autorin zahlreicher Bücher.

www.quelle-des-guten-lebens.de

 

EnlightenNext Impulse 06

 

Radio evolve – Gespräch mit Katharina Ceming: http://bit.ly/2sIXvGo