Nach dem Besuch einer Ausstellung mit Werken von Anselm Kiefer in Baden-Baden im Januar 2014 trafen sich Thomas Steininger und der Künstler Axel Malik zu einem Gespräch über die Tiefendimensionen in Kiefers Werk und das aufklärerische Potenzial der Kunst.

THOMAS STEININGER: Anselm Kiefer gelingt es mit seiner Kunst, verschiedene Räume und Ebenen in einer Weise zu öffnen, als wären sie ungetrennt und eins. Seine Kunst zeichnet sich zudem durch eine betonte „Stofflichkeit“ aus. Das beginnt mit den Materialien, mit denen er arbeitet. Blei ist einer seines Lieblingsmaterialien und es trifft den Betrachter in seinem sinnlichen Eindruck, seiner grauen Mattheit, seiner Schwere und Verformbarkeit. Aber Kiefer verwendet Blei gleichzeitig symbolisch: Das alchemistische Blei, das sich in Gold verwandelt. Philosophische und historische Räume spielen in seinem Werk eine große Rolle. Sie zeigen sich in den Namen der Bilder, die Kiefer meist gut sichtbar in das Bild selbst einfügt. Da heißt ein Bild „Der fruchtbare Halbmond“, eine alte Bezeichnung Mesopotamiens, oder „Lilith“, die dunkle Schwester der biblischen Eva. Kiefers Bilder behandeln oft die Menscheitsgeschichte, einschließlich ihrer Mythen. Hier versucht jemand uns als Menschheit zu begreifen, aber seine Suche trifft den Betrachter vor allem in einer stofflichen Unmittelbarkeit. Materialen wie Blei und vertrocknete Blumen verbinden sich mit mythischen Anspielungen wie Lilith oder der biblischen Jakobsleiter. Da wird eine Multidimensionalität unseres Menschseins sichtbar, die einen direkt anspricht.

AXEL MALIK: In seinen Arbeiten geht es auch nicht um zweidimensionale Flächen, sondern um eine Tiefe, die uns in einen Raum bringt. Raum meint jetzt hier nicht, dass wir eine architektonische Perspektive sehen. Es ist vielmehr die grundsätzliche Erfahrung, dass wir in einen Raum gestellt sind. Wir spüren eine Präsenz, die Gegenwart einer Sphäre, in der uns ein Bild umgreift und in der wir innehalten.

Mit diesem Innehalten ist eine Verlangsamung verbunden. Man verweilt lange vor diesen Bildern und schaut auf etwas, was auf eine gewisse Art und Weise unbegreiflich ist. Die eigene Wahrnehmung, das Sehen, wird zu einem sinnlichen Erfahren, hat eine körperliche Dimension der Eindrücklichkeit und Konkretheit, der man sich nur schwer entziehen kann.

In seinen Bildern taucht man in eine unbegrenzte Fülle und Tiefe, die auf der Ebene der Materie und in der Form spürbar ist. Und gleichzeitig erfährt man die Qualität des Stofflichen, das Schwere und Verschlossene oder wie beim Blei auch das Giftige. Wenn man nun vor diesen Bildern steht, wird man aber nicht bedrückt, trotz der grauen Farben, dem Dumpfen und Schweren, das man sieht. Durch diese Qualitäten des Gräulichen scheint ein kristallines Leuchten hindurchzuscheinen. Und dieses Leuchten hat etwas mit dieser existenziell, menschlichen Ebene zu tun, die du angesprochen hast, als würde sich hier eine Grundbewegung von Welt oder Schöpfung zeigen.

TS: Ein Beispiel dafür ist das Bild „Der Bergkristall“. Das Bild ist vollkommen aus Blei. Der Bergkristall steht ja für funkelndes Licht und das ganze Bild besteht nur aus schwerem, mattem Blei. Und trotzdem vermittelt sich der Titel in diesem Bild.

Kiefers Wahl der Materialien wiederholt sich auch in der Wahl der Themen. Neben den Mythen spielen der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die jüngere deutsche Geschichte eine wichtige Rolle. Anselm Kiefer ist wahrscheinlich der deutsche Künstler, der sich wie kein zweiter unserer nationalen Geschichte gestellt hat, sei es der Bombenkrieg oder das deutsch-jüdische Verhältnis. Und wie in der Auseinandersetzung mit seinen Materialien – er stellt sich dem Karma, der Schwere, aber er versinkt nicht in ihr. Im Gegenteil: In seinem Sich-Stellen wird Transformation sichtbar.

Dabei bietet er nirgendwo Lösungen. Man sieht sich als Betrachter mit den Abgründen und Ursprüngen des Menschseins konfrontiert. Immer wieder sieht man den fruchtbaren Halbmond, der als die Wiege der Menschheit gilt. Er beschäftigt sich intensiv mit der Kabbala, die nicht nur eine der großen mystischen Traditionen ist – sie ist eben auch eine jüdische Tradition. Ein deutscher Künstler stellt neben seiner Beschäftigung mit der deutschen Geschichte die jüdische Mystik in die Mitte seines Werks, so als würde sich hier eine Antwort andeuten. Vielleicht schafft diese Konstellation immer wieder diesen Durchbruch, diese Lebendigkeit, in der seine Themen herausfordern, ohne zu lähmen. Verstärkt wird das durch seine Ästhetik – sie ist so absolut gegenwärtig, in ihr ist nichts Reproduzierendes.

AM: Ein Grund dafür ist das existenzielle Sehen, das sein Werk von uns verlangt. Unser normales Sehen und Wahrnehmen ist ein endliches Sehen, weil wir ständig irgendwie versuchen, etwas zu reduzieren und zu erkennen. Aber in Kiefers Kunst scheint etwas in der Wahrnehmung auf, das einen ganz tiefen Bezug hat zu dem, was es heißt, zu existieren und Mensch zu sein. In diesem Sehen wird etwas Neues geboren.

Ich habe ein Gespräch mit Kiefer gelesen, in dem er davon erzählt, dass seine Eltern ihm Wachs in die Ohren gesteckt haben, weil draußen Bomben fielen. Und er hat gesagt, dass „die Bomben die Sirenen meiner Kindheit waren“. Er ist in Donaueschingen aufgewachsen, und überall gab es große Bombentrichter. Er hat diese Trümmer nie als etwas Negatives empfunden, sondern als einen Zustand der Transition, des Umschwungs. Er sagte: „Die Trümmer waren immer Ausgangspunkt einer Konstruktion von etwas Neuem“.

Kiefers Bilder sind voller Risse, Verwerfungen, Schichtungen und Furchen. Alle diese Spuren verweisen auf das Prinzip der Umwälzung und Verwandlung in Welt und Universum. Es ist ständig etwas im Wachsen und im Vergehen, im Verblühen, im Aufblühen, ein ewiger Prozess der Umformung.

Das betrifft auch den Arbeitsprozess seiner Bilder. Er steht nicht vor einer Staffelei, sondern er läuft auf seinen Bildern herum, er beackert sie, zieht Äste darüber, bearbeitet sie mit dem Besen oder mit Werkzeugen, setzt sie dem Wetter aus. Es ist ein physisches Eindringen, die Leinwand wird zu einem Ort der Durchdringung, zu einer Arena, in der sich tiefe Bezugnahme, Auseinandersetzung und schöpferische Stellungnahme ereignen. Er entkleidet die Materie und ein universelles Prinzip der Vitalität, der Verbindung, der Beziehungsfähigkeit und des Bezogenseins wird sichtbar.

TS: Vielleicht liegt auch darin die Kraft seine Bilder. Entgegen der Brüchigkeit seiner Materialien, wie du sie beschreibst, besitzen sie gleichzeitig einen Charakter, in dem sich im tiefsten Vergehen immer schon wieder ein Aufblühen zeigt. Darin lebt auch ein Paradox, weil er oft verblühte Dinge aus der Natur, wie Sonnenblumen oder andere Pflanzenteile verwendet.

Nehmen wir als Beispiel Kiefers Arbeit „The Secret Life of Plants“, ein Saal miteinander ähnlichen Bildern an allen vier Wänden, die den Betrachter wie ein Kosmos umschließen. Auf den Bildern sieht man etwas, das Sternenformationen oder Galaxien sein könnte, sie vermitteln etwas Galaktisches. Wie so oft bei Kiefer sind die Bilder riesengroß, vielleicht drei Meter hoch und fünf Meter lang. Auf diesen Bildern sind echte, weiß getünchte Äste angebracht, die sich ganz in das Harmonische dieses wild galaktisch Gemalten einfügen. Man kann das Organische, Pflanzliche, Mikrokosmische nicht mehr vom Galaktischen, Kosmischen, Makrokosmischen trennen. Es geht ihm darum, so sagt er selbst über diese Arbeiten, dass es eine Beziehung zwischen Pflanzen und dem Kosmos gibt. Beim Betrachten dieser Bilder kann man den ästhetischen Eindruck dieser weiß getünchten Äste nicht mehr von dem ästhetischen Eindruck des gemalten Kosmos trennen. Beides ist nicht mehr getrennt wahrnehmbar. Das hat bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen. Er zwingt dich zu einer Sicht von Einheit, einfach durch die Ästhetik, in der er sie zeigt. Und es ist diese Unmittelbarkeit des Wahrnehmens, die einen so direkt trifft.

AM: Ja, diese Verbundenheit wird im Sehen offenbar. Es ist eine Erfahrung, wir können es wahrnehmen, ohne darüber nachzudenken. In dieser Bezugnahme auf mystische Themen zitiert er nicht einfach die Kabbala oder andere Philosophien. Er versucht eigentlich etwas wiederzuentdecken, was in der Moderne in der Säkularisierung verloren gegangen ist. Es sind die tiefen mystischen Wurzeln, die er hier in die heutige Zeit bringt und revitalisiert. Und das gelingt ihm, indem er dafür Bilder schafft, bei denen man ganz unmittelbar mit diesen Tiefendimensionen in Berührung kommt.

Bio:

Axel Malik ist freischaffender Künstler und entwickelt seit zwanzig Jahren die „Skripturale Methode“, eine Verbindung von Malerei und Schriftformen, deren Anliegen es ist, die Dynamik des schöpferischen Prozesses freizulegen. Malik stellte in Galerien, Museen und Kunstvereinen aus und schreibt und spricht über Ansätze eines neuen Kunstbegriffs. www.die-skripturale-methode.de

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